Ulrich Knoop

 

 

"Abschach”

 

Lessing, Nathan II, 1.

 

 

 

Eine Szene im “Nathan” hat recht früh eine besondere Aufmerksamkeit erfahren: Sittah und Saladin spielen Schach.

Allerdings ist Saladin nicht so recht bei der Sache und somit hat das Schachspielen eine sinnbildliche Seite. Er verliert, weil er mögliche Spielzüge registriert und davon besonders einen, der dann das “schachmatt” bedeutet:

 

"Sittah: Nun denn: Schach! Und doppelt Schach! / Saladin: Nun freilich, dieses Abschach hab’ ich nicht gesehn, das meine Königin zugleich mit niederwirft.” (II, 1, Scene: Des Sultans Palast).

 

Die Frage ergibt sich, welche Konstellation hat Saladin nicht gesehn? Wilhelm Heinse vermerkt 1783 in Rom, wohin er sich den “Nathan"  hat nachschicken lassen, “Schachkenner. So zieh ich die Gabel. Abschach.” (W.H. Die Aufzeichnungen.Frankfurter Nachlass. Bd.1 Aufzeichnungen 1768 - 1783. Hg.v. Markus Bernauer et al. München 2003, 850), was im Kommentar so erklärt wird: “Mit der Gabel ist der Zug gemeint, durch den zwei gegnerische Figuren gleichzeitig bedroht werden.” (W.H. Aufzeichnungen 1768 - 1783. Kommentar zu Bd. I. Hg.v. Markur Bernauer et al. München 2005, 996). Damit (“Gabel”) ist die Konstellation gemeint, die aus dem entstanden ist, was Saladin nicht gesehen hat, dem “Abschach”.

 

Dem werden nun viele Erklärungsversuche gewidmet. Grimm, im 1.Bd. des DWB, Sp. 94:  “gebildet wie abweg, ab dem schach sein”, also nicht im Schach stehen. Der literaturwissenschaftliche Kommentar geht eigene Wege. So kommt Heinrich Düntzer zu dem Schluß, Abschach sei der Zug, “welchen man unmittelbar nach einem dem Gegner gebotenen Schach thut, gleichsam der Rückzug aus dem angreifenden Schach, der aber ein neues Schach sein kann, zugleich mit dem Bedrohen des Königs” (Erläuterungen zu Lessings Werken. 6.Abt. ... 1863, S. 86). Richard Gosche wiederum bezieht sich implizit auf Grimm, indem er auf die Zusammensetzung mit ab- abhebt, dann aber den Schluß zieht, “‘Abschach’ bedeutet daher an und für sich nur den abschließenden Endverlauf des Spiels, dann erst bestimmter ... das Schach bieten mit notwendigem Verlust der feindlichen Königin.” (Lessing' s Werke. Hg.v. Richard Gosche. 3.verb.Aufl., 2.Bd. Bearb.v. Richard Gosche. Berlin 1884, S.273, Anm. 1). In den Wörterbüchern kommt man im 20. Jahrhundert dann zur Erklärung “Abzugsschach” (so im Digitalen Wörterbuch Deutscher Sprache - DWDS s.v.), nämlich einem “Schach", das daraus ersteht, dass man eine Figur, die zuvor im Wirkungsfeld einer anderen gestanden hat, wegzieht, und diese nun freies Feld hat für ihr "Schach". Das findet dann auch Eingang in den neuesten Kommentar zu “Nathan” aus der Reihe des DKV (Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 9 Gotthold Ephraim Lessing Werke 1778-1780. Hg.v. Klaus Bohnen und Arno Schilson. Frankfurt am Main 1993, S. 1256): “Abschach”] Abzugsschach: der gegnerische König wird dadurch bedroht, dass durch Abzug einer Figur die dahinter stehende ihn angreifen kann.” Dazu war schon im 19.Jahrhundert Karl v. Bahder gekommen, der in seiner sprachwissenschaftlichen Überlegung Düntzer kritisiert:“'rückzug aus angreifendem schach' ist mir nicht klar” (S. 522) und unter Berücksichtigung von mittelhochdeutschen Belegen zur Erklärung kommt: "abschach ist nämlich nichts anderes als abzugsschach”(Paul und Braunes Beiträge Bd. 22, 1897, S. 523). Die Nathan-Stelle erklärt v. Bahder so: "Sittah zieht eine ihrer figuren weg und kann dann schach (d.i.abschach) sagen, außerdem sagt sie aber auch mit dem weggerückten steine selbst schach (also doppelschach) und bedroht dadurch zugleich auch die  königin” (S.523). Ewald Eisenhardt stimmt dem zu (Die mittelalterliche Schachterminlogie des Deutschen. Diss. Freiburg 1908, S.16), verweist aber auf die Etymologie von ab- als Bezeichnung des Minderwertigen und Negativen, also auf das, worauf schon DWB 1854 aufmerksam macht. Offensichtlich meint "Abschach”nicht das voll und gültig auszusprechende Schach (dem König bzw. der Königin) als vielmehr ein nicht so gültiges, eher latentes Schach. Denn Saladin sagt ja nicht, dass er den Zug des Abziehens nicht registriert habe, er akzeptiert vielmehr, dass Sittah ein “doppelt Schach!” ausrufen kann, das also der dann besprochenen “Königin”, vor allem aber dem König gilt. Sittah ist dann so im Vorteil, dass sie die Königin gar nicht “nehmen” muß, sie kann unmittelbar den König matt setzen: “Sittah: ‘Wozu sie nehmen ? Schach! - Schach!’ / Saladin: ‘Nur weiter.’ / Sittah: ‘Schach! - und Schach! - und Schach!’ / Saladin: ‘Und matt!’” Sittah treibt den gegnerischen König in fünf Zügen so in die Enge, dass Saladin sich matt dünkt, was Sittah auch so sieht, denn die Möglichkeit, einen Springer dazwischen zu ziehen, hilft auch nichts mehr. Die Gedankenstriche im Text sind die Züge von Saladin, sie münden jedesmal in einem neuen Schach, und beim fünften gibt es keinen Ausweg mehr in eine schachfreie Position. Was also meint dann Saladin damit, dass er dieses Abschach nicht gesehen hat ? Ein “Abzugsschach” kann Saladin erst dann sehen, wenn es vollzogen ist, vorher ist es kein ausgeführtes, also kein "gebotenes" Schach. Was er nicht gesehen hat, ist eine Position, aus der heraus ein Schach erstehen kann.

 

Die Frage, was mit “Abschach” gemeint sein kann, ist also an die Schachspieler zu richten. Hier stellt sich allerdings heraus, dass dieses Wort nicht (mehr) bekannt ist, die Nathan-Szene allerdings auch heute noch Interesse findet, wenn auch, wie Sabine Fett meldet, keine Nachspiellösung in Sicht ist.

 

Hier wird darüber diskutiert: http://www.schachmatt.de/69schachraetsel/4061sittahgegensaladin.html.

Für eine Theater-Aufführung gab es auch schauspielerische Überlegungen: www.schachmatt.de/69-schachraetsel/5361-letzte-zueges-eines-spiels-nachstellen.html. 

 

 

 

Das Wort ist also älter, was daraus hervorgeht, dass es Wilhelm Heinse offensichtlich geläufig ist. Es findet sich im 17. Jahrhundert in einer gängigen Schachschrift: Das Schach- oder Königsspiel, Leipzig 1616 von Gustavus Selenus. Dort wird zum Schachgeben erläutert:"Geschichts aber nicht offentlich, besonders mehr durch Entdeckung eines Steines, wan nemlich derselbe Stein, welcher zwischen einem König und einem Stein, der sonsten, wan die linie zu dem frey und offen wehre, Schach geben könte, eingestanden, fortgerucket wird und also den anderen auf den König, dass Er ihm Schach gibt, entdecket, so heisset  mans einen Ab-Schach”(S.111). Es geht also beim Abschach um eine mögliche Schachgebung, die erst dann bzw. dadurch realisiert wird, dass eine andere Figur weggezogen wird. Das wird in der weiteren Schachliteratur auch so gesehen. Joh. Christian Bernstorf, Ueber den Geist des Schachspiels, Hildesheim 1799, sieht darin eine vorteilhafte Art, ein Hindernis wegzuräumen und ein "aufgedecktes Schach" zu bieten (S.185). Joh. Friedrich Wilhelm Koch, Kodex der Schachspielkunst, Magdeburg 1813, greift das auf und bemerkt: "Ein verdecktes Schach (Gustavus Silenus nennt es Ab=Schach) entsteht, wenn zwischen dem feindlichen König und dem schachbietenden Steine noch ein anderer Stein steht, mit dessen Wegziehen erst das wirkliche Schach entsteht"(S.24).

 

 

"Abschach”ist also ein "unwirkliches" Schach, eines, das nur potentiell ist. Dies zu erkennen, ist nicht so einfach, auch vom schachgebenden Spieler nicht ohne weiteres. Es ist also ein Schach, das noch nicht wirkt, also dem echten Schach nachgeordnet ist. Erst mit einem weiteren Zug kommt es zur Wirkung. Sichtbar ist es in der Konstellation, da es aber nicht in der direkten Kampf- bzw. Angriffsposition ist, ist es auch kein richtiges, sondern eben ein "verdecktes Schach". Saladin bedauert also, dass er diese Möglichkeit eines Schachbietens seitens Sittah nicht gesehen hat. Damit erfährt die Bedeutung dieses Wortes ihre Erklärung aus dem, was Grimm schon so sah, nämlich aus der pejorisierenden Vorsilbe Ab- . Ein Abschach ist ein minderes Schach, wie ein Abweg ein minderer Weg ist, nämlich der, der vom Ziel wegführt bzw. nicht zu ihm hinführt. Also meint Abschach nicht ein korrektes Schach, wie das die Erklärung "Abzugsschach”unterstellt, sondern eine Position, die durch Veränderung einer anderen Figur dieser Figur die Schachgebung auf diesem Wege zuteilen kann, nämlich dadurch, dass eine Figur weggezogen wird, die selbst nicht Schach bietet, durch ihren Wegzug aber der anderen Figur den Weg zum Schachbieten frei macht.