Ulrich Knoop

Die Gretchenfigur im “Faust” – worthistorisch erläutert.

(Abschiedsvorlesung, Freiburg, am 23.Juli 2008)

 

 

Vorspann

 

Die freundlichen Worte der Dekanin, meine Damen und Herren, zeigen mir, daß die Zweifel darüber, ob man alles so richtig macht, dann wohl eher Ansporn dazu waren, daß man es richtig macht. Spectabilis, liebe Frau Cheauré, ich freue mich darüber daß Sie mein Wirken an dieser Universität mit so liebenswürdigen Beschreibungen bedenken können. Es ist rücksichtsvoll, daß Sie die übliche Frage nach der Vollendung des Klassikerwörterbuchs nicht gestellt haben, obwohl sie mich natürlich umtreibt und deshalb will ich Ihnen die Antwort auf die nicht gestellte Frage nicht vorenthalten: Wörterbücher brauchen ihre Zeit. Und hier beim “Klassikerwörterbuch” ist es noch mal anders, weil es nicht nur ein historisches Wörterbuch ist, sondern ein besonderes. Es ist nämlich so, daß die Wörter aus Texten stammen, die in unserer Zeit immer noch ein Leben haben und deshalb erzählt fast jedes Wort seine eigene Geschichte – so wie Sie das im Folgenden zur Gretchen-Figur im “Faust” dargestellt bekommen.

Zuvor möchte ich aber all die vielen begrüßen, die extra und z.T. von sehr weit hierher gekommen sind. Keine Angst, ich werde nun nicht weitschweifig. Ich wähle hier etwas, was uns die Sprache ermöglicht: Also begrüße ich Sie, Euch und Dich ganz herzlich, freue mich, daß Sie, Ihr und Du gekommen seid bzw. bist. Aber vier sollen mit Namen genannt werden, da darf ich einmal das Persönliche in das Universitäre hineinbringen. Ich begrüße also Uta, meine Frau, Richard, Franziska und Hannah, unsere älteren Kinder, und freue mich darüber daß sie zu diesem Tag von weit her kommen konnten, Jonathan und Ludwig sind ferienbedingt so weit weg, daß es nicht ging.

Daß Sie alle gekommen sind, ist eine schöne Resonanz auf das, was ich bei den Studierenden und den jüngeren Mitarbeitern anlegen wollte. Und damit bin ich auch beim Thema, nämlich der Welt eines jungen Menschen, der sich überlegt, was wird aus mir, auch so ein bißchen in die Richtung, wie kann ich etwas wirklich Begeisterndes erleben. Damals, also um 1800, war das Naheliegende für eine junge Frau, daß man den Stand des Fräuleins, den Sie so gar nicht mehr kennen, ablegt, in dem man über die Heirat die Anrede “Frau” und deren Stand erhält, sonst bleibt man ein Fräulein, aber ein ältliches. Das aber will Gretchen nicht. Und was sie will, was sie ist – darum geht es jetzt.

 

 

1. Wortgeschichte

 

Diese Gretchen-Figur war schon immer so faszinierend, daß die erwünschten weiblichen Verhaltensweisen in großer Vielfalt auf sie projiziert wurden.

Diese intensive Rezeption bewirkt eine solche Gegenwärtigkeit und Vertrautheit des Textes, daß darüber die Differenz seiner Sprache marginal erscheint. Gegenüber der Zeit um 1800 hat sich die deutsche Sprache aber so verändert, daß sich viele Wortbedeutungen von unserem Sprachgebrauch unterscheiden und wir uns deshalb vieles in seiner Bedeutung erst vergegenwärtigen müssen, was damals ganz selbstverständlich gewesen ist.

 

 

2. Fräulein

 

Ausgangspunkt ist die Szene “Straße”, also die erste Begegnung von Faust und Margarete. Auffällig ist zunächst, daß Gretchen mit ihren ersten Worten ablehnt, das zu sein, was sie doch offensichtlich ist: ein Fräulein, nämlich eine unverheiratete Frau.

 

“Faust. Margarete vorübergehend.

FAUST. Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,

Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?

MARGARETE. Bin weder Fräulein, weder schön,

Kann ungeleitet nach Hause gehn.

(Sie macht sich los und ab.)” (Faust I, v.2604 ff.)

 

Die Kommentatoren vermerken für Fräulein, daß dies im 18. Jahrhundert eine unverheiratete Frau von Stand bezeichne, und Faust sie eigentlich als Jungfer oder Demoiselle ansprechen müsse. Denn im Text, ein Stückchen weiter, sagt Marthe: “Der Herr [in diesem Fall Mephisto] dich für ein Fräulein hält” (v.2915). Das ist richtig: hier bedeutet ,Fräulein‘ unverheiratete Frau von Stand. Sprachlich ist das allerdings insgesamt nicht so eindeutig. Denn gerade dieses Wort ist hinsichtlich seiner Bedeutung, vor allem aber seines Prestiges wegen im 18. Jahrhundert einem Streit ausgesetzt. Noch 1691 heißt es in einem Wörterbuch (Kaspar Stieler), jede adelige Jungfrau glaube, sich Fräulein nennen zu dürfen. Es gibt also zu Anfang des 18. Jahrhunderts ein Gefälle innerhalb des Adels: nur hochadelige unverheiratete Frauen sollen Fräulein heißen. Umgekehrt: Von Christoph Martin Wieland erscheint 1794 ein Aufsatz ,Über den Vorschlag, unsere bisherigen Demoisellen Fräulein zu betiteln‘. Hier ist also ein großes emanzipatorisches Programm im Gange, das das ganze 18. und 19. Jahrhundert beschäftigt und letztlich durch die Marginalisierung von Fräulein im 20. Jahrhundert deshalb erledigt wird, weil die diskriminierende Anzeige von Unverheiratetsein bei Frauen aufhören sollte. Reaktion des Adels am Ende des 18.Jahrhunderts: eine neue attributive Kennzeichnung – “gnädiges Fräulein”. Bei Grimm, Deutsches Wörterbuch heißt es deshalb: “da es (Fräulein) sich mit der zeit auch auf unedle ausdehnte und heute allgemein geworden ist, so fügte der adel ein ,gnädig‘ hinzu”. Als Beispiel wird H.L.Wagner, Erzählungen 1774 angeführt: ,gut, dachte bei des Vaters Sittenlehre / die gnädige Fräulein Dorilis...‘ (Deutsches Wörterbuch [dtv-Ausgabe] Bd. 4, Sp.89). Damit wissen wir aber nur in der einen Wendung, nämlich in der Verneinung, was gemeint ist: “Bin weder Fräulein, weder schön..”. Die Verneinung bezieht sich auf Fausts ganze Anrede “Mein schönes Fräulein...” Diese ist ein Phraseologismus, also redensartlich, so ähnlich wie noch vor kurzem “gnädige Frau”, bei deren Adressierung man nicht daran dachte, daß diese Frau einem doch gnädig sein solle. Das Ganze hat allerdings noch eine Weiterung, was an der Redewendung “schönes Fräulein” liegt. Mephisto sagt zu Marthe, daß sich “ein schönes Fräulein” ihres Mannes in Neapel angenommen habe: “Sie hat an ihm viel Lieb‘s und Treu‘s getan, daß er’s bis an sein selig Ende spürte” (v. 2982ff.). “Schönes Fräulein” kann also auch eine Prostituierte bezeichnen, was unter “Fräulein” in den Wörterbüchern vermerkt wird! “Ehedem bedeutete es eine jede Jungfrau; oft aber auch eine Hure” (Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch (etc.), 1774-1786, Bd. 2, Sp.275).Wenn man die Fülle der Bezeichnungen für Frauen anschaut, die Faust und Mephisto anschließend austauschen (Kind, Dirne [Du mußt mir die Dirne schaffen - Faust weiß also ganz genau, daß Gretchen kein “Fräulein” ist !], Ding, Blume, Geschöpfchen, Püppchen), dann ist es durchaus naheliegend, daß Faust so von Gretchen denkt - und Gretchen das zumindest ahnt. Auch deshalb könnte sie den Phraseologismus wörtlich nehmen, also trennen und dann “Fräulein” und “schön” ablehnen. Davon gleich mehr.

 

3. Fausts Verjüngung

 

 

In der Äußerung von Faust ist also einiges nicht so überzeugend, wie es sich zunächst anhört. Für uns klingt: “darf ich wagen/ Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen” altertümlich und allenfalls galant im altmodischen Sinne. Könnte es nun so sein, daß dieses für uns Altertümliche eben das ist, was damals modisch war? Das war es aber nicht. “Geleit geben”, ist zwar eine damals noch übliche Wendung, aber sie meint eine eher offizielle Angelegenheit: “Einen Spazierritt vorzuschlagen, den sie im Geleit Friedrichs, des fürstlichen Oheims, unternehmen sollte” (Johann Wolfgang Goethe, Novelle, Weimarer Ausgabe [= WA] I, 18, S.137). Oder: “Das Geleit dieser Damen [hatte] er dem jüngeren Piccolomini aufgetragen” (Die Piccolomini, WA I, 40, S.46). Geleit kann man also nicht jemandem von

sich aus antragen, schon gar nicht, wenn man dieser Person unbekannt ist, sondern man wird gebeten oder beauftragt. Die Wendung “Arm und Geleit” ist hingegen so einmalig, daß das auffällig komponiert erscheint. Und deshalb die Frage, wie und wofür.

Greift man Mephistos letzte Worte aus der vorangegangenen Szene “Hexenküche” auf, so erscheint Fausts Handeln wie die Folge der Prognose, daß er bald empfinden würde, wie Cupido sich regt (v.2597/98). Aber das, was gemeinhin als Liebestrank verstanden wird (z.B. Ulrich Gaier in seiner Kommentierung zu Faust, Bd. II, Stuttgart 1989, S.317ff.), ist nur die Folge von etwas, das die Zeitgenossen weit mehr in Erstaunen versetzt hat und das später allerdings in den Hintergrund getreten ist: Faust bekommt einen Verjüngungstrank, der sogar so stark ist, daß die Hexe um seine Gesundheit fürchtet. Das ergibt ein Problem, welches Heinrich Luden in seinem Gespräch mit Goethe vom 19. August 1806 anspricht: Faust ist Mitte Fünfzig (“so dächte ich 54 Jahre wären ungefähr ein angemessenes Alter”; WA, V, 2, S.60). Er schließt das daraus, daß Faust selbst sich mit dem Verjüngungstrank “30 Jahre vom Leibe schaffen” will (ebd. und v. 2342). Aber es bleibt das Problem, daß er ein gealterter Mann ist, der mit “erkünstelter Jugend” den umgekehrten Weg nehmen will und nun mit dieser “Hexenjugend” (Luden, WA V, 2, S.68) verschmachtet vor Begierde (Ulrich Gaier, Kommentar Bd. II, S. 292: “Faust wird ein Monstrum mit jungem Körper und altem Geist”). Aber kann er so jung auch sprechen, beherrscht er diese Sprache? Offensichtlich nicht. Denn Heinrich Luden, der Zeitgenosse, merkt seinen Worten an, daß einst ein höherer Geist in ihm gelebt hat (ebd.) und daß er noch zuweilen eine Sprache spricht, die seines früheren Strebens würdig ist (Luden, WA V, 2, S. 70). Und dieser eigentlich alte Galan zeigt eine frappante Unverhältnismäßigkeit in seinen Äußerungen. Denn das pseudo-galante Geleitanbieten wird in der folgenden reißerischen Frauenerörterung konterkariert: “Wenn nicht das junge Blut / Heut nacht in meinen Armen ruht, / Sind wir um Mitternacht geschieden” (v. 2634 ff.) - man bedenke, “Fräulein” hat er sie genannt und er hat ihr seinen Schutz “angetragen”!

 
 

 

Faust spricht unverhältnismäßig, floskelhaft, auch für damals altertümlich (“antragen”), unangemessen (“Geleit”) und übertrieben (“Arm und Geleit”). Und genau so ist sein Verhalten: er hakt sich nämlich bei Gretchen unter! Die höfliche, fast höfische, tatsächlich aber übertriebene Frage, wird durch die Gestik völlig unterlaufen. Woher wissen wir das? Erstens durch die Regie-Anweisung: “(Sie macht sich los und ab)” (zwischen v. 2608 und v.2609).Faust hat Gretchen also schon ergriffen, obwohl er seinen Arm erst mal nur anträgt. Und zweitens durch die Illustrationen, z.B. von Eugene Delacroix.

 

Eugene Delacroix, Faust cherchant à séduire Marguerite, 1828

Moritz Retzsch hat das so gezeichnet.

Friedrich August Moritz Retzsch, Umrisse zu Goethes Faust, 1820

 

 

Beide Zeichner setzen verständig die Regieanweisung um - und Goethe stimmt diesen Zeichnungen ausdrücklich zu, was er selten macht!

 

 

4. Gretchens Urteilsfähigkeit

 

 

Nun wird die vom Autor angelegte Leistung von Margarete - so heißt sie in dieser Szene! - viel deutlicher. Sie decouvriert umgehend die Floskelhaftigkeit der Anrede, indem sie den Phraseologismus auseinander nimmt: “Bin weder Fräulein, weder schön” – so, als hätte er das tatsächlich sagen wollen. Damit kritisiert sie seine Redewendung und bedeutet ihm, daß er nur so daher redet. Dann erfindet sie blitzschnell ein passendes Wort, mit dem sie ihm seine ganze Phrasenhaftigkeit spiegelt: “ungeleitet” ist ein hapax legomenon, kommt also nur einmal vor, nämlich hier. Das “Grimmsche Wörterbuch” verzeichnet es nicht, auch sonst kommt es nicht vor. Außerdem ist das Geleit eines solchen Herrn doppeldeutig, also tatsächlich eindeutig: wenn er sie begleitet, kann er nicht ihr schützender Geleiter sein, weil er ein Fremder ist und deshalb nur in Frage käme, wenn er beauftragt worden wäre. Es würde, ließe sie diese Art von Geleit zu, vor allen wachsamen Augen deutlich gemacht, daß das nur ihr Galan sein kann, sie wäre also markiert.

Margarete ist rhetorisch ungemein geschickt, vor allem schnell und treffsicher. Wir erleben ein junge Frau, die sehr wohl mit der Sprache umzugehen weiß, also eine entsprechende Ausbildung bzw. Umgebung haben muß. Das verweist auf ihren Rang, der als “bürgerlich” im damaligen Verständnis anzusetzen ist. Die beiden Verse mit ihrer so schlagfertigen Entgegnung sind also als das genaue Gegenteil einer fast durchweg unterstellten Naivität anzusehen. Dies um so mehr als in der gezielt eingesetzten mehrfachen Nachbetrachtung dieser Szene im weiteren Verlauf des Stücks noch klarer wird, was gemeint ist. Die erste Nachbetrachtung folgt unmittelbar durch Faust und sein Entzücken über dieses von ihm als “erstaunlich” angesehene Verhalten, die zweite durch Gretchen vv.2678 ff., als sie über den Herrn nachdenkt, der so “keck” war (changiert in der Bedeutung eher zu ,dreist’ als zu unserem harmloseren ,übermütig’), indem sie sich fragt, ob sie sich so frech, ja unanständig betragen habe, dass Faust daraus hätte

entnehmen können, mit der Dirne gerade hin handeln zu können (vv.3171 ff.):

 

“Ach, dacht ich, hat er in deinem Betragen

Was Freches, Unanständiges gesehn?

Es schien ihn gleich nur anzuwandeln,

Mit dieser Dirne gradehin zu handeln.”

Gretchen rekapituliert, daß sie bestürzt war und sich nicht denken konnte, daß die direkte Ansprache mit dem schillernden “Fräulein” und dem Griff nach ihrem Arm aufgrund eines auffordernden Betragens ihrerseits erfolgt sei. Ihre Schlußfolgerung für dieses Verhalten: “Es schien ihn gleich nur anzuwandeln/ Mit dieser Dirne g’rade hinzu handeln.” (vv. 3173/4) – nämlich ohne weitere Rücksichten, z.B. eines angemessenen Verhaltens.

 

Die dritte Nachbetrachtung erfolgt durch beide, als sie sich im “Garten” über ihre erste Begegnung unterhalten. Faust bittet um Verzeihung für die Freiheit, die er sich am Dom genommen habe und gibt zu, dass er sich dieser “Frechheit unterfangen” habe. Sie erkennt auch seine Betroffenheit, die aber nie und nimmer zu einem solchen unziemlichen Vorstoß hätte führen dürfen, denn ihr Betragen erforderte anderes. Und sie weiß auch, dass er weiß, daß sie ein bürgerliches Mädchen ist. Ihre sichere Beurteilung des Verhaltens von Faust wird dann noch mal verdeutlicht durch das Wortspiel, daß sie eigentlich noch entrüsteter hätte sein sollen – und es nicht konnte: “Allein gewiß, ich war recht bös’ auf mich, / Daß ich auf euch nicht böser werden konnte.” (vv. 3177/8).

Die Kommentierung ihres Verhaltens durch Faust in der ersten Nachbetrachtung deutet aber vorab auf etwas anderes hin: sie ist schnippisch und “wie sie kurz angebunden war / Das ist nun zum Entzücken gar” (v. 2616). Nach unserem Sprachgebrauch wäre sie demnach: Hochnäsig, frech oder wählerisch beim Essen, außerdem barsch, gereizt, abweisend und wortkarg (s. ,Duden-Wörterbuch in zehn Bänden‘ 2002). Das alles soll zum “Entzücken” sein?

 

 

5. Gretchens Verhalten und Fausts Begeisterung

 

“FAUST. Beim Himmel, dieses Kind ist schön!

So etwas hab‘ ich nie gesehn.

Sie ist so sitt- und tugendreich,

Und etwas schnippisch doch zugleich.

Der Lippe Rot, der Wange Licht,

Die Tage der Welt vergess‘ ich‘s nicht!

Wie sie die Augen niederschlägt,

Hat tief sich in mein Herz geprägt;

Wie sie kurz angebunden war,

Das ist nun zum Entzücken gar!” (v. 2609 ff.)

 

Was ist das Entzücken? Ein Kommentar schreibt, Faust sei “entzückt”, ein anderer, Gretchen sei “entzückend”. Unsere Bedeutung ist also recht konventionell. Und das war “Entzücken” um 1800 nicht. Denn es heißt: das ist zum Entzücken “gar” – “Entzücken” wird also hervorgehoben und dadurch noch intensiviert.

“zucken” bzw. “zücken” ist eine Intensivbildung zu “ziehen”, bedeutet ,heftig ziehen’, ,herausreißen’. Diese Bedeutungen verschwinden langsam, halten sich aber länger in “entzücken” oder “verzücken”. Bei Herder heißt es: “als Anschauung des Unermeßlichen betrachtet, erhebt sie [gemeint ist die Andacht] zwar die Seele, entzückt sie aber auch in einen Glanz”. “Entzücken” bedeutet also modern gesprochen: ,der Besinnung berauben, so daß der Geist abwesend, oder besser, auswesend ist’, und zwar auf eine angenehme Art. Es bezeichnet ein Aus-dem-Körper-Herausgerißensein der Seele, die Ek-stasis. Daß das wirklich so verstanden werden konnte, zeigen verschiedene Stellen in Goethes Werken, darunter die folgende: “Welch herrliches Gesicht [Vision] mich hoch (!, also: hinauf) entzückte, Wie mich die Macht der Gottheit selbst beglückte, aus meiner dumpfen Wohnung mich entrückte.” (also ,be-geisterte‘; Sonett in “Bevenuto Cellini”, WA I, 43, 369).

 

 

6. “schnippisch”

 

“Schnippisch” kann heute eine ganze Reihe von Bedeutungen haben, von ,hochnäsig’ über ,frech’ bis hin zu ,wählerisch beim Essen’. Es ist jedoch schwer vorstellbar, daß Faust von einem unfreundlichen, patzigen oder frechen Verhalten begeistert sein soll. Eine positive Wertung “schnippischen” Verhaltens findet sich aber bei Johann Christoph Adelung, dem zeitgenössischen Wörterbuch: “Schnippisch, [...] schnell und keck im Reden, naseweis im Reden” (Bd. III, Sp.1587). So ähnlich wird das auch in den “Wanderjahren” verwendet:

“Endlich vernahm ich von ihm, die Gäste seien Frauenzimmer, eine ältliche Dame von würdigem Ansehen, eine mittlere von unglaublicher Anmuth, ein Kammermädchen, wie man sie nur wünschen möchte. Sie fing an, sagte er, mit Befehlen, fuhr fort mit Schmeicheln und fiel, als ich ihr schön that, in ein heiter schnippisches Wesen, das ihr wohl das natürlichste sein mochte.” (WA I 25,1, S.202).

“Schnippisch” bezeichnet also eine keckes, selbstbewußtes, schlagfertiges Wesen.

 

 

7. “kurz angebunden”

 

Das deutet darauf hin, daß Faust von ihrem Selbstbewußtsein begeistert ist. Aber was ist nun damit, daß sie ,barsch‘ und ,wortkarg‘ (“kurz angebunden”) sein soll? Antwortet Margarete wirklich ,mit wenigen Worten‘ und ,unfreundlich‘, wie das die meisten Wörterbücher erläutern. Sehen wir uns die Stelle noch einmal genau an.

 

“FAUST. Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,

Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?

“MARGARETE. Bin weder Fräulein, weder schön,

Kann ungeleitet nach Hause gehn.” (v.2605 – 2608)

 

Margarete ist weder knapp noch unfreundlich. Obwohl sie seine Begleitung ablehnt, gönnt sie Faust immerhin 10 Wörter, damit ist ihre Antwort annähernd fast so lang wie seine Anrede. Von ,wenigen, unfreundlichen Worten’ kann also keine Rede sein. Zudem spielt sie, wie wir gesehen haben, mit den Vieldeutigkeiten, die ihr Fausts galante Worte anbieten, und das Ganze ist noch in einer eleganten Verschränkung von Parallelismus und Chiasmus formuliert. Das ist weit mehr, als die meisten glücklichen Liebhaber erwarten können!

Margarete legt also in keiner Weise das Verhalten an den Tag, das sie laut ,Duden-Wörterbuch‘ eigentlich zeigen müßte. Blicken wir in Adelungs Wörterbuch, so hilft uns dieses hier nicht weiter: Adelung erklärt “kurz angebunden” unter “anbinden” folgendermaßen: “Kurz angebunden seyn, leicht zum Zorne zu bewegen seyn; weil man dasjenige, was im eigentlichsten Verstande kurz angebunden ist, leicht und bald haben kann” und er ergänzt: “Der Ursprung dieser Redensart ist unbekannt” (Bd. I, Sp.270). Unter “kurz”, also weiter hinten im Alphabet, spekuliert er aber trotzdem weiter, dort heißt es: “Ein Pferd kurz anbinden, den Zügel kurz binden, so daß es wenig Raum zur Bewegung habe. Daher vermuthlich die im gemeinen Leben übliche Redensart ,kurz angebunden seyn’, ,leicht

aufzubringen, leicht zum Zorne zu bewegen seyn’. Den Leithund kurz halten, bey den Jägern” (Bd. I, Sp. 1845). Er vermutet hinter der Wendung also eine Übertragung von der Fixierung eines Tiers, das, an kurzer Leine liegend, aggressiv wird und zu zornigem, wütenden Verhalten neigt. In Lutz Röhrichs “Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten” (Neuausgabe Freiburg 1991, Bd. 1, S. 82) tritt uns ebenfalls das eben beschriebene Bild entgegen: “Kurz angebunden sein: in mürrischer, abweisender Stimmung sein, barsch, unwillig oder schnippisch antworten, sich nicht weitläufig auslassen. Das Bild der Wendung kommt wohl von dem kurz angebundenen Hofhund, der als bissig gilt.” Erneut begegnen wir also dem Adelungschen Hund.

Doch Adelung gibt auch einen Hinweis in die richtige Richtung. Er paraphrasiert nämlich die Wendung “mit einem anbinden” durch: “es mit ihm aufnehmen, sich mit ihm in einen Streit, in ein Handgemenge einlassen” (Bd. I, S.270). Nun wird Margarete nicht gerade

handgreiflich - auch wenn sie sich gegen die zupackende Aufdringlichkeit ihres Verehrers wehren muß (“Sie macht sich los”) - aber sie nimmt es sprachlich mit ihm auf. Im Paulschen Wörterbuch findet sich dann ein weiterer Hinweis: “mit jmdm. anbinden”. Es bedeute ,Streit anfangen’, das sei jedenfalls die Bedeutung im 17. Jh., und diese stamme aus der Fechtersprache .(Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, 9.Aufl. Tübingen 1991, S. 31).

Auch das Frankfurter Wörterbuch kennt die Bedeutung ,mit jmdm. Streit anfangen’. Hier findet sich das Zitat: “Där hott sich heut Middag schon emol so mit Aan angebunne”.

Es scheint so zu sein, daß man zu dieser Zeit die eine Redensart, “kurz angebunden sein” nicht mit der anderen, “mit jemandem anbinden” in Verbindung bringen kann. Aber genau diese Verbindung ist der Schlüssel zu unserer Stelle. Das Problem steckt nicht so sehr in dem Wort “anbinden”, sondern, und deshalb wird der Zusammenhang nie hergestellt, in “kurz”. “Kurz” wird entweder räumlich aufgefaßt (die kurze Leine, der kurze Weg zum Ärger), oder sprachlich (der kurze, knappe Ausdruck). Gemeint ist es aber zeitlich: ,schnell’ ist die hier anzusetzende Bedeutung. Wer kurz angebunden ist, ist schnell bereit, mit jemandem anzubinden. Der Ausdruck stammt tatsächlich aus der Fechtersprache

.

"mit einem anbinden": Zeichnung aus Talhoffers Fechtbuch, 1467

Das Adverbial kurz wird in “kurz angebunden” temporal aufgefasst, also: ,rasch’. Anbinden steht hier im Sinne von ,eine Auseinandersetzung friedlicher oder feindlicher Art mit jemandem beginnen’, eine Bedeutung, die heute noch in em österreichisch-bairischen ‘anbandeln ‘ steckt und in zahlreichen – vor allem älteren – Wörterbüchern belegt ist. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (s.v. anbinden) erklärt hierzu, daß “das schwert anbinden [¼] für ,die Waffen als Zeichen des Kampfkontaktes zusammenschlagen’ steht (Oskar Reichmann, Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 1, Berlin 1989, Sp. 1000). Die Zeichnung aus Tallhofers Fechtbuch, einer Bilderhandschrift von 1467, zeigt diese ursprüngliche aber schon übertragene Bedeutung von anbinden. Übertragen ist die Bedeutung deshalb, weil die Wortgeschichte von anbinden auf ein meist ledernes Band (port d’épée) zurückgeht, welches an der Fechtwaffe befestigt war und vor dem Kampf um das Handgelenk gebunden wurde, um den Fechter vor dem Verlust seiner Waffe zu bewahren. Dieses Anbinden stand dann als pars pro toto für den Kampfbeginn überhaupt. Zusammen mit dem temporalen Adverbial muß ‘kurz anbinden‘ gelesen werden als das schnelle Greifen zur Fechtwaffe, diese aus der Scheide ziehen und sich für den Kampf vorbereiten bzw. den Kampf eröffnen oder den ersten Angriff des Gegners parieren.

 

In Wanders Deutschem Sprichwörterlexikon aus der Mitte des 19. Jahrhunderts findet man zu der Wendung “Er zieht leicht vom Leder” die Erklärung: Er ist “immer schlagfertig, kurz angebunden” (Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Herausgegeben von Karl Friedrich Wilhelm Wander, Berlin 1867 ff. , Bd. I, S.75). “Schlagfertig”, ebenfalls aus der Fechtersprache, bedeutet ,bereit, den (ersten) Schlag zu führen’. Besonders interessant in unserem Zusammenhang ist aber, daß Wander unter “anbinden” eine heute vergessene Wendung notiert. Diese lautet: “Er ist angebunden, wie Gretchen im Faust.” Wander erläutert: “D.h. kurz, rasch entschlossen” (Bd. I, S. 75) und zeigt damit, daß die beiden älteren Bedeutungen ‘angrifflustig‘ und ‘ungeduldig‘ semantisch nicht weit auseinander liegen. Das findet dann auch eine endgültige, zeitgenössische Klärung. In seinem “Wörterbuch der deutschen Sprache” erläutert Daniel Sanders 1859 unter “anbinden”: “Ein Verhältnis u.a. anknüpfen, anspinnen, wobei dies als ein freundliches oder als ein feindliches erscheinen kann... hierher scheint auch die Redensart zu gehören: kurz angebunden = leicht in Händel verwickelt, rasch zum Kampf entschlossen.”

Margarete ist also kurz (= schnell) entschlossen, mit Faust anzubinden, mit ihm die Klingen zu kreuzen. Sie ist im besten Sinne wehrhaft, und das ist es, was Faust fasziniert: nicht die blonde Naivität, die das Bild von Gretchen geprägt hat, sondern das ständische Selbstbewußtsein einer Margarete, das sich ihm mit ihren wohlgeformten und dennoch schnell gezückten Worten entgegenstellt: diese Person ist schlagfertig und eloquent.

Dieser etwas lange Weg – unsere Wörterbuchredaktion brauchte etwa drei Jahre - zeigt an, daß es nicht so leicht ist, den gesamten Sprachgebrauch zu überblicken, weil vieles nicht in einem einzigen Nachschlagewerk registriert wird. Wörterbuchmacher können nur einen Teil der Sprachwirklichkeit erfassen und darstellen. Deshalb gibt es Sprachgebräuche, die Autoren und Teilen des Publikums selbstverständlich sind, anderen aber nicht. Erst durch Vergleiche und Aufsuchen möglichst vieler Quellen erhält man dann den Hinweis, der einen Sprachgebrauch so erklärt, dass er in das Gesamtgefüge der Argumentation an der zu erklärenden Stelle paßt.

 

 

8. Faust und Gretchen

 

Der Anfang der Szene “Straße” ist Fausts erster Auftritt in einem Lebenszusammenhang, der für ihn neu und ungewohnt ist.

Umgekehrt zeigt Gretchen, daß sie sprachlich und speziell rhetorisch exzellent gebildet ist. Das ist nicht nur aus der Wortwahl, der eleganten Syntax ersichtlich, sondern auch aus der Spontaneität der wohlformulierten Antwort. Goethe legt diese Figur so an, daß sie damit zeigt, welche Fähigkeiten sie hat: sie versteht blitzschnell und antwortet blitzgescheit. Das ist Bildung in dem Sinne, wie sie Goethe ansonsten verstanden wissen will: die kluge Einbettung in die Situation, ihre souveräne Bewältigung und der souveräne Umgang mit erworbenen Mitteln. Hier besonders klug: besonnen, ohne polemisch zu werden und dann indirekt zu erkennen geben (Augensprache mit Niederschlagen der Lider: “Wie sie die Augen niederschlägt”, v. 2515), daß sie doch beeindruckt ist, ohne sich etwas zu vergeben. Das ist: Beherrschung der Situation! Wie gesagt: es ist Gretchens erster Auftritt, so wird sie vom Autor kennzeichnend eingeführt. Wer ist sie?

 

 

9. Margarete – eine selbstbewußte junge Frau

 

Das würde nun zum Schluß dieser Überlegungen zu weit führen, denn diese Figur ist reich und in gewissen Teilen geheimnisvoll angelegt. Gerhard Kaiser merkt dazu an, daß sie am Ende des zweiten Dramenteils “sublimiert” wieder auftritt (Faust und Margarete: Hierarchie oder Polarität der Geschlechter [1994]. Wiederabgedruckt in: Goethe – Nähe durch Abstand. Vorträge und Studien. Jena – Weimar 2000, S.130). Doch lassen sich einige markante Punkte der Anlage dieser Figur kurz anführen, weil sie so deutlich benannt werden. Gretchen hat mit ihrem vollem Namen Margarete einen Namen erhalten, der ähnlich allgemein und beliebt ist, also häufig vergeben, wie der von Faust: Heinrich (= Hinz¼ und Kunz = Konrad). Bei der Namensgebung von Margarete beruft man sich auf zwei Heilige mit diesem Namen. Gretchen hat ein ähnliches Schicksal wie sie, nämlich Geliebte zu sein und dann verlassen zu werden. Auch die Wende in deren Leben ist wiederum vergleichbar mit Gretchen. Das geht aus der entscheidenden Veränderung vom “Urfaust” zum “Faust I” vor: Goethe fügt in der Kerkerszene eine “Stimme (von oben)” ein, die ein “Ist gerettet” ruft (v.4611). Was das dann bedeutet, das zeigt der Schluß von Faust II, also in der letzten Szene “Bergschluchten”, wo im “Chor der Büßerinnen” “Una Poenitentium” die Regiebemerkung erhält: “sonst Gretchen genannt”.

Der Text ihres Gesangs greift das Gebet Gretchens aus Faust I auf und lautet nun (immer noch mit Frankfurter Spirans von “g”):

Neige, Neige

Du Ohnegleiche,

Du Strahlenreiche,

Dein Antlitz gnädig meinem Glück.

Der früh Geliebte,

 

Nicht mehr Getrübte,

 

Er kommt zurück. (v.12070 ff.)

 

Diese “eine Büßerin” wird von Mater gloriosa aufgefordert:

 

“Komm! hebe dich zu höheren Sphären!

 

Wenn er dich ahnet, folgt er nach” (v.12093-94).

 

“Er” ist Faust. Gretchen gehört also zum Gefolge der Mater gloriosa.

Das macht es nötig, die Religiosität von Gretchen, so wie sie in Faust I deutlich wird, ernster zu nehmen als dies bislang der Fall ist. Zur Vorstellung von ihrer angeblichen Naivität hat auch diese Auffassung beigetragen, so daß man ihre Frömmigkeit im aufklärerischen Sinne als kleinstädtisch bzw. kleinbürgerlich geprägte Frömmelei verstand. Diese Auffassung minimiert die tatsächlich angelegte Spanne zwischen Faust und ihr, denn seine Verbindung zu magischen Kräften und Geistern hat einen deutlichen Widerpart in ihrer Verbindung zu den christlich-religiösen Kräften. Dazu ist der Verweis auf ihr Gebet in der Szene “Zwinger” in Faust I ( “Ach neige, Du Schmerzensreiche...” v.3587 ff.) zu deutlich. Dem entspricht auch die Anlage der Person in Faust I. Man hat mit den Szenen “Am Brunnen” oder “Gretchens Stube”, ihrer (zu oberflächlich erfaßten) Frömmigkeit oder dem raschen, nicht sehr widerständigen Eingehen auf Faust ihre Naivität begründet. Das wurde fast typisch: Blond, [Zöpfe], naiv, ein Mädchen aus dem “Kleinbürgertum”, wie man das dann kennzeichnete, dem in Faust die große Welt begegnet und der sie ganz in Bann schlägt. Aber sie ist alles andere als das. Wie schon gesehen, ist sie rhetorisch geschickt. Das kann man nur sein, wenn zuhause und durch
Schulbildung diese Fähigkeit angelegt und gefördert wird. Spinnradlied und Thule-Lied sind zwar volkhaft, aber eben artistisch so, daß es aussieht wie volkhaft. Tatsächlich ist es die natürliche Bildung, die gemeint ist, also gleichweit entfernt von Naivität oder Verbildung.

 

Metro-Goldwyn-Mayer-Plakat zur "Faust"-Verfilmung mit Emil Jannings

Zu dieser Aus-Bildung (Schule, Geselligkeit....) muß eine Familie finanziell in der Lage sein. Anzeichen deuten klar daraufhin, daß das so ist. Ihr Bruder Valentin ist Offizier, das setzt Vermögen voraus. Und daß die Familie über Vermögen verfügt, wird dadurch angedeutet, daß Schmuck bzw. Geld im Hause nichts Ungewöhnliches sind. Gretchen sagt nämlich, als sie die erste Schmuckgabe von Mephisto sieht: “Vielleicht bracht’s jemand als ein Pfand, / Und meine Mutter lieh darauf.” (v.2786 ff.). Das liegt daran, daß der verstorbene Vater “ein hübsch’ Vermögen” hinterlassen hat (v.3117). “Stube” hat für uns die Bedeutung “kleiner Raum”, so daß “Gretchens Stube” wie “Kämmerlein” klingt (eine Verniedlichung, die Peter Stein in seiner Inszenierung ausgeschlossen hat). Denn um 1800 bezeichnet ,Stube’ einen wichtigen, vor allem aber komfortablen Wohnraum: er ist beheizbar (mhd. stoven, stövchen; engl. stove) und das ist der Vorzug des wohlsituierten Bürgertums. Dazu paßt dann die Verfügung über oder zumindest den Zugang zu einen (Lust-)Garten, in dem Marthe und Mephisto, Faust und Gretchen spazieren gehen und wo sich auch ein Gartenhäuschen befindet, was mögliche Muße andeutet (Gretchen kokettiert also eher mit ihren vielen Tätigkeiten, denn diese sind vergangen, so daß sie selbst sagen kann: “doch hab ich jetzt so ziemlich stille Tage” [v.3119]) Im übrigen ist die gern gewählte Kennzeichnung von Gretchen als “kleinbürgerlich” ein Terminus, der auf spätere Verhältnisse im 19. Jahrhunderts zutrifft. Das Wort selbst wird erst um 1800 geprägt. Auf die sozialen Verhältnisse, die dann kleinbürgerlich genannt werden, träfe die zeitgenössische Kennzeichnung “Armut” oder “arme Leute” zu und das sind solche, die nicht oder wenig versteuern. Zahlenmäßig sind das bis zu 80% der Stadtbewohner (vgl. E. Schubert, Erscheinungsformen der Armut... In: Stadt als Kommunikationsraum. Leipzig 2001, S.661 ff.). Dazu gehört die Familie von Gretchen aber gerade nicht.


Gretchen läßt sich also auf Faust nicht deshalb ein, weil sie von ihm gebannt ist oder sich ihm gar unterlegen fühlt, intellektuell und vom Stand her. Gewiß, er ist ein Herr (also in etwa adelsgleich). Aber für sie besteht keine Notwendigkeit, z.B. eine Versorgungsverbindung anzustreben. Möglicherweise könnte eine bürgerliche Heirat erschwert sein, weil sie Halbwaise ist, aber tatsächlich kann sie wählen und sie weiß es auch, weil sie sich ihre Gefühle in guten Worten klar macht, klar machen kann. Und gerade darum geht es. Goethe hat mit Gretchen eine Figur entworfen, die die damals vorgesehene Sanktionierung der persönlichen Verbindung in einer Eheschließung nicht erwägt. Ihre Erwiderung zu Mephistos Bemerkung: “Ihr wäret wert, gleich in die Eh‘ zu treten...” (v.2940), nämlich: “Ach nein, das geht jetzt noch nicht an” (v. 2942) ist eher eine Replik und dem Ansinnen Mephistos geschuldet, sicherlich aber keine Absichtserklärung, später daran zu denken, eher umgekehrt, überhaupt davon Abstand zu nehmen. Von diesem Funktionieren des weiblichen Parts für den bürgerlichen Ehevertrag wird hier Abschied genommen. Vielfach war es aber im Verständnis der Figur Gretchen so, daß dieser bürgerliche Standpunkt insofern beibehalten wurde: wenn nicht Eheschließung dann wäre Gretchen Part einer Libertinage, wie sie sich der Bürger erträumt. Das kann aber nicht aus der Anlage der Figur, vor allem aber nicht aus ihrem Verhalten abgelesen werden: Gretchen fühlt sich nicht als Opfer. Sie wird nicht verführt. Sie ist neugierig, wer der Herr gewesen ist, der sie so dreist angesprochen hat, sie imaginiert den Stand der “Buhle” und mit dem gefundenen Schmuck will sie sich schmücken, um besser auszusehen (Szene “Abend”). Sie knüpft keine Verbindung zu Faust als möglichem Geber, sie handelt frei. Das wird ganz klar, als sie sagt, daß sie schon bei der ersten Begegnung eine Zuneigung zu Faust spürte, trotz oder wegen der verunglückten Ansprache. Ihre Freiheit wird auch aus den Umständen klar: Gretchen wird zunächst weder mit Einlassungen ihrer Mutter oder noch ihres Bruder konfrontiert, was ja naheliegend wäre, um so mehr als der Bruder bei vaterlosen Mädchen rechtlich der Vormund ist.

Aber sie kann auch die libertinären Männerredereien von Faust und Mephisto auf Abstand halten, nämlich durch ihre Haltung. Damit stellt sie sich außerhalb des Schemas von Liebschaft vs. Ehe. Die Gretchenfigur gewinnt damit eine Gegenposition zu Faust, die Gretchen überhaupt erst dramaturgisch zu einem vollgültigen Gegenpart zu Faust macht. Sie handelt völlig aus sich heraus und erlangt auch in ihrem Handeln die Selbständigkeit und Unabhängigkeit, die sie gleich zu Anfang sprachlich unter Beweis gestellt hatte. Und diese werden eben darin deutlich, daß sie sich trotz der von ihr erkannten Unsicherheit und des Fehlverhaltens Fausts auf ihn einläßt. Gerhard Kaiser stellt deshalb zu recht fest: Faust hat “im Geschlechterverhältnis keine Überlegenheit; im Gegenteil” (S.130). Und so liebt sie Faust – allerdings so wie er wäre, wäre er ein Liebender, oder überhaupt zur Liebe fähig.

 

Einer solchen selbstbewußten, also freien Wahl entsprechen aber nicht die Freiheiten des damaligen gesellschaftlichen Raums und die Möglichkeiten von Faust, so dass sie schließlich selbst fatal handelt. Der Bezug zum Kindsmord damaliger Zeit benennt zwar die gesellschaftliche Dimension einer Schwangerschaft aufgrund eines Liebesverhältnisses – so wie es das Lieschen über das Bärbelchen zum Schrecken von Gretchen ausmalt. Man hat das alles, was nun folgte im dramatischen Geschehen unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Schuldgefühle – etwa als ,gefallenes‘ Mädchen – gesehen und dabei übersehen, daß Gretchen in die Abgründe ihres Glaubens gezogen wird, was nur einem geschehen kann, für den die Religiosität existentiell ist.

Gretchen ergeht es aber noch schlimmer: Ihr Liebhaber Faust sieht sie im weiteren Verlauf als Buhle, die mit Geschmeide bezahlt werden kann. Dann bewirkt er zusammen mit seinem Kumpan die Beseitigung ihrer stützenden Verwandtschaft, nämlich ihrer Mutter und ihres Bruders. Gretchen ist nun mutterseelenallein und was bislang eher nur verhalten wahrgenommen wurde in der Textbetrachtung (“Nachbarin, Euer Fläschchen – man denke an die Phiole Fausts, den Verjüngungstrank bei den Hexen): ihr künftiges Muttersein erscheint ihr nun als monströse Schuld. Und hier erfolgt nun ihr größter Einbruch: ihre Liebe, ihre Mutterschaft, alles, was für sie gut (bonum) ist, ist Ursache dafür, daß die Bitten an den Gott, dem sie vertraut, ungehört verhallen (ihr Gebet an die mater dolorosa), und er dem Bösen Geist in seinem Hause Zutritt gewährt. Ihre Ohnmacht in der Kirche verkörpert die Erkenntnis, daß der Gott sie verlassen hat. Sie hat erfahren, daß sie als Spenderin eines neuen Lebens einer Wahnwirklichkeit gegenübersteht, die das als “Sünde” ansehen will. Es ist für sie unfassbar, daß sich dieses “Christentum”, auf das sie so ganz selbverständlich gegenüber Faust gebaut hat, gegen sie wendet. Und so muß sie erkennen, daß sie nicht nur menschlich, sondern existentiell allein ist. Es gibt mittlerweile in der Literaturwissenschaft Erläuterungen, die sich damit beschäftigen (Beatrice Dumiche, Weiblichkeit im Jugendwerk Goethes, Würzburg 2002), aber viel aufschlußreicher ist die Bemerkung aus einem Vortrag vom Jahre 1916. Dort heißt es: “Was Mephistopheles mit den Menschen wirklich wollte, ist etwas..., was die Menschen auf der Erde unmöglich gemacht hätte... Denn was auf der Erde erst eingetreten ist, das ist die Fortpflanzung durch die Geschlechter der Menschen, durch das Männlich-Weibliche”. Rudolf Steiner (Faust, der strebende Mensch...Bd. I. 1981, S.280) verweist darauf, daß diese kirchliche Sündenauffassung teuflisch ist, weil sie sich gegen die Geschlechterliebe und damit Kinder wendet (Mephisto bevorzugt ohnehin die künstliche Menschenproduktion, den Homunculus).

Einer solchen Wahl entsprechen aber nicht die Freiheit des gesellschaftlichen Raums und die Möglichkeiten von Faust, so daß Gretchen schließlich selbst fatal handelt.

Wir wissen wie es endet. Das war wohl, auch im Empfinden von Goethe, auszusprechen und darzustellen so notwendig, wie gesellschaftlich ,unmöglich’. In einer Einlaßung dazu benennt Goethe den Hinrichtungstod von Gretchen als Zugeständnis an den Zeitgeist:

“Goethe sagte einmal zu Rühle: »Ich heidnisch? Nun ich habe doch Gretchen hinrichten und Ottilie verhungern lassen; ist das den Leuten nicht christlich genug? Was wollen sie noch Christlicheres?«Das erinnert an die empörte Antwort, die er Knebeln wegen der sittlichen Bedenken desselben gegen die ›Wahlverwandtschaften‹ gab: »Ich hab‘s auch

nicht für Euch, ich hab‘s für die jungen Mädchen geschrieben.«“ (Gesprächsnotiz für das Jahr 1809 von Varnhagen von Ense in: Goethe: Briefe, Tagebücher, Gespräche, = Goethe-Gespr. Bd. 9.1, S. 112)

“Zeitgeist” heißt natürlich auch, daß es anderslautende Stimmen gibt, auf die Goethe hört, z.B. die ihm bekannte Sophie Mereau. Sie stellt in ihren Romanen Befreiungsversuche von Frauen dar und bemerkt dazu in ihrem Tagebuch:


“Nur selten gelangt das Weib zu einem freien, lebendigen Bewußtsein ihrer Existenz. Nur Liebe bringt Selbsttätigkeit und Leben in den dumpfen Kreis ihrer Ideen. Hier, und hier allein, ist es ihr vergönnt, ein freieres Dasein zu genießen und mit dem Mann die Rechte des Lebens zu teilen.”(zit. nach D.v.Gersdorff, Dich zu lieben..., Frankfurt 2006, S.242).

Goethe selbst hat noch anderwärts diese Auffassung betont, etwa im “Wilhelm Meister” für die Geliebte des Melina:

“Ja, ich habe ihn von de Augenblick an, da ich seiner Neigung und seiner Treue gewiß war, als meinen Ehemann angesehen; ich habe ihm alles gerne gegönnt, was die Liebe fordert, und was ein überzeugtes Herz nicht versagen kann.” (Buch 1, Kap. 13)

Dieses Ende ist allerdings nur vorläufig und von daher sind die Vergleiche mit anderen Kindsmörderinnen verfehlt, Gretchen ist nicht die literarisierte Margarete Brandt (Margaretha Brandt wurde 1772 in Frankfurt als Kindsmörderin hingerichtet, Goethe war mit ihrem Prozeß als Jurist befasst). Denn Gretchen ist zwar “gerichtet”, aber dann auch “gerettet”. Und dazu legt sie selbst die Voraussetzungen: sie stellt sich dem Sündenvorwurf, aber sie sagt dann auch, daß alles, was sie dazu gebracht hat, gut und lieb war (v.3585 f.), also unter den Maßstäben, die sie sich setzt, gerechtfertigt. Anders als Emilia Galotti will oder kann Gretchen die freie (freiwillige) Begegnung als unerhört neues Gefühl verwirklichen, nämlich als ein Wissen von sich selbst. Sie ist also selbstbewußt.

Ich könnte nun etwas zum notwendigen jugendlichen Selbstbewußtsein sagen, das für ein Studium, für unsere Universität so wichtig ist. Wichtiger ist mir jedoch, das, was hier nun spürbar, vielleicht sogar deutlich geworden ist, zu benennen: Klassikertexte sind nicht vergangen, klassische Texte sind gegenwärtig, weil sie uns immer wieder herausfordern, daß wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Daß mir dies hier in Freiburg möglich war, verdanke ich der Hilfsbereitschaft der Universitätsverwaltung, dem Rektorat, der Rücksicht und dem Takt der Kollegen in unserer Fakultät, die mich gewähren ließen, und dem Vertrauen und der liebenswürdigen Bereitschaft der Studierenden und der Mitarbeiter, sich auf dieses wissenschaftlichen Abenteuer einzulassen, das nun , anders als mein Vortrag, ganz und gar nicht zu Ende ist!