Ulrich Knoop

 

 

Der Klassikerwortschatz: Das Klassikerwörterbuch (KWB) und seine Begründung.

 

1.

 

Wenn ich erzähle, ich arbeite an einem Klassikerwörterbuch, ernte ich Zustimmung, aber auch skeptische Anlehnung. Ersteres, weil man meint, damit würden der gesamte Wortschatz und so die Klassiker eine angemessene Würdigung erfahren, letzteres, weil man angesichts des “Deutschen Wörterbuchs” und dessen Erläuterungsleistungen so etwas für überflüssig hält - steht das nicht schon im “Grimm” ?

 

Das erste ist ein freundliches Mißverständnis: das Klassikerwörterbuch soll Unbekanntes und Unerkanntes erläutern, also nur das, was von unserem Wortverstehen differiert, weshalb das KWB diesen “Differenzwortschatz” erklärt. Das zweite ist unzulänglich, denn der “Grimm” hat viele Wortschätze nur zum Teil erfassen können (Moritz bis Fontane) und, man höre, auch nicht alle Wörter aus den herangezogenen Klassikertexten seiner Zeit aufgenommen. Stichproben, z.B. die Zusammensetzungen mit heck-, ergaben Defizite, hier nämlich eine Anzahl von 23 Wörtern in unserem Klassikerkorpus zu 11im DWB, 12 sind im DWB nicht erfaßt (Brückner/Knoop 2003, 69, A.10). Außerdem ist die Auswertung von anderen Wörterbüchern, derzeit vermehrt das von Adelung, mißverständlich, wie noch zu zeigen sein wird.  Die Kommentierung wiederum basiert auf Philologenentscheidungen darüber, was sie als erklärungsbedürftig für den Leser halten, was sich aber von dem unterscheidet, was die Leser erklärt bekommen möchten bzw. notwendigerweise erklärt bekommen sollten. Unsere Auswertung eines Vergleichs der kommentierten Wörter und der Lemmata für das Klassikerwörterbuch ergab eine Erfassung  von ca. 10%:  90 % des differenten Klassikerwortschatzes bleiben in der Kommentierung unerklärt, obwohl sie nach unseren Erhebungen (s.u.) für heutige Leser erklärungsbedürftig sind.

 

Diese Reaktionen sind deshalb erwähnenswert, weil sie einiges zur sprachgeschichtlichen Besonderheit unserer Sprachepoche verraten: die Rezeptionsbereitschaft für ältere Texte, sowie umgekehrt die sprachliche Differenz dieser älteren Texte und die Gründe für das anlaufende Erklärungsgeschäft (erste Zeugnisse dafür schon um 1860!).Zugrunde liegt dem das zentrale Motiv der Sprachgeschichtsforschung, ihre gesellschaftlich-kulturelle Begründung also, das Verstehen von Sprachtexten zu ermöglichen. Sprachgeschichtsdarstellung  resultiert aus dem Wunsch, Verstehenshindernisse abzubauen und ältere Sprachformen für das Verständnis zu erklären: zuvörderst die graphische Gestaltung des Wortausdrucks, dann die lexikalischen und grammatischen  Differenzen. Die sprachgeschichtlich aufgezeigten Veränderungen ebnen den Weg zum Verstehen älterer Texte, was aber meist vergessen wird zu sagen. Sprachgeschichte erscheint deshalb vielfach als bloße Darstellung der Entwicklung einer Sprache, nämlich als Skalendarstellung des Sprachveränderungsverlaufs. St. Sonderegger (1979) hat dezidiert darauf hingewiesen, dass Sprachgeschichte Verstehensgeschichte ist und von heute nach rückwärts ausgerichtet ist, wie überhaupt Sprachgeschichte ein Fach der Moderne ist, ältere Zeiten kümmern sich nicht um die Geschichte ihrer Sprache.

 

Klar sichtbar sind die graphischen Veränderungen, vor allem für unsere Orthographiefixiertheit: “arougnissi” aus dem 8.Jahrhundert sieht völlig anders aus als “Ereignis”, andererseits bedeutet “Ereignis “ um 1800 teilweise etwas anderes als heute (“event”), nämlich das “Sichtbare” (Schlußverse des “Faust II”,v.12107: ”Hier wird’s Ereignis”). Und mit diesen Phänomenen der Sprachentwicklung bzw. Differenz zweier Sprachzeiten beschäftigt sich das Klassikerwörterbuch, nämlich den am Wortausdruck nicht erkennbaren Veränderungen der Wortbedeutungen. Das ist zunächst verwunderlich, vor allem für klassisch gebildete Menschen, sind doch die Klassikertexte zentrale, nämlich kulturstiftende Texte unserer Zeit: sie werden schulisch vermittelt, medial besprochen, auf Theatern aufgeführt und sind Bestandteil von Anthologien. Daher das selbverständliche Annahme, daß sie eigentlich verständlich sind.

 

 

2.

 

Wie sehr ein klassischer Text als gegenwärtig aufgefaßt werden kann, dafür ein Beispiel. “Im Winde klirren die Fahnen” - so endet das beliebte Gedicht “Hälfte des Lebens” von Friedrich  Hölderlin. Interpreten gehen von ihrem (heutigen) Sprachgebrauch aus und verstehen das als Tuchfahnen, die sie als gefroren ansehen, denn sie klirren ja. Wenn die Stuttgarter Ausgabe von 1940 das als “Wetterfahnen” kommentiert, ich selbst auf den gleichen Gebrauch im “Hyperion” verweisen kann und zudem “klirren” auch in der syntaktischen Konstruktion “klirrende Kälte” seine Klangbedeutung nicht verliert  - “es klirrt”  bedeutet nicht: ‘es ist kalt’ (Knoop 2008, 50 ff.) - kann sich Peter von Matt noch 2010 hierfür keine Wetterfahnen aus Blech vorstellen (2010, 51). Die Ursache für dieses Verfahren liegt in einer Veränderung der Auffassung darüber, wie der Stellenwert des literarischen Sprechens gesehen wird, nämlich seit 1900 als antipodisch zu einer Standardsprache und damit ganz eigenwillig. Zunächst als die eigentliche sprachschöpferische Potenz, wie sie z.B. Peter Szondi in seinen Thesen gegen die Beleg-Philologie begründet (1962): ein Wort kommt 138 mal in gleicher Bedeutung vor, die 139. Verwendung kann, davon autonom, eine andere haben. Die ist vom Autor selbst bestimmt und damit einzigartig, also nicht verbunden mit den übrigen Bedeutungen des Gebrauchs. Hier mögen Eindrücke und Verfahrensweisen der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts vorbestimmend gewesen sein hinsichtlich des wortschöpferischen Vermögens von Autoren, bzw. deren prononcierter Normenverweigerung oder -flucht. Aufgegriffen wird das auch von der Linguistik, dann als der sprachkritische Expressionismus, DADA und selbst der Verismus abgeflaut sind, nämlich in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Manfred Bierwisch prägt dazu die These von der Literatursprache als Abweichungssprache gegenüber dem Standard (in seinen wildesten Äußerungen sogar “defizitär”; 1965, 55). Das ergab dann die Begründung für eine Autonomie literarischen Sprechens gegenüber den sprachhistorischen Erläuterungen von Bedeutungszusammenhängen: die Literaturwissenschaft läßt sich nichts sagen von den Worthistorikern - mit der Folge für den Unterricht und die Lektüre überhaupt: das müßt ihr verstehen, obwohl es sprachlich gesehen Texte aus einer signifikant anderen Sprachepoche, also in gewissem Sinne fremde Texte sind.

 

Dennoch gilt: Auch Schriftsteller schreiben aus einem allgemeinen Sprachverständnis  heraus und in ein allgemeines hinein: sie wollen verstanden werden. Das gilt umso mehr, wenn  sie daran beteiligt sind, diese allgemeine Sprache mit zu prägen, was ja das dezidierte Ziel um 1800 gewesen ist. Der expressionistische Ausbruch war denn auch eher eine Revolte gegen die Verkümmerung der allgemeinen Sprache, wie das z.B. in Hofmannthals Chandos-Essay zum Ausdruck kommt.  Mehr noch: literarisches Sprechen ist geradewegs die Auseinandersetzung mit der Sprache, also die Prüfung auf ihre Tragfähigkeit, ihre Verläßlichkeit, das Ausloten ihrer Möglichkeiten und viel weniger das Setzen neuer Möglichkeiten. Die heute wesentlich umfassenderen Möglichkeiten der Wortrecherche erweisen, dass all die Neubildungen, etwa Goethes, schon längst im Schwange waren, wohl aber durch seine Texte an Verbreitung gewannen - auch dies ein Hinweis darauf, dass die Worterfindungslust gar nicht an deren Wege lag. Das bedeutet: die nicht mehr verständlichen Wörter, die Differenzwörter also, sind zu ihrer Zeit, also der Zeitstufe 2 (etwa die Zeit um 1800), gar keine besonderen Wörter, sie sind in diesem Sinne un-markiert. Sie werden es erst dadurch, dass sie in den weiter rezipierten Texten von damals tradiert werden und nun, in Sprachstufe 1, unserer also, mit ihrer Unverständlichkeit auffallen. Damit ist auch klar: das Klassikerwörterbuch erläutert nicht einen speziellen, individuellen  oder besonderen Gebrauch, sondern für unsere Zeit solche Wörter, deren Bedeutung seit damals verändert wurde.

 

 

 3.

 

Was bringt das Klassikerwörterbuch an Erklärungen, vor allem an neuen Erkenntnissen ? Es erklärt nicht “die “ Literatursprache, weil es die so nicht gibt, zumal sie von den Schriftstellern auch gar nicht angestrebt wird. Autoren schreiben langue-orientiert. Ihr möglicherweise eigentümlicher Wortschatz, also der Teil ihres Wortschatzes, den speziell sie verwenden und über  welchen sie vermehrt verfügen als andere - oder sogar besser -, jener mögliche eigene Teil also, wird nur in Auseinandersetzung  mit dem allgemeinen Wortschatz zu klären sein. Das Verstehensproblem hinsichtlich der Klassikertexte ersteht also nicht aus der Literarizität der Verwendung sondern aus der sprachhistorischen Differenz, die einzusehen wiederum erschwert wird durch die unterstellte Synchronizität des Klassikertextes. Das läßt sich illustrieren an einem mittlerweile  berühmten Wort, nämlich “bewußtlos” aus dem Anfang der “Marquise von O....” von Heinrich v. Kleist. Aufgrund der vermeintlichen Menschen-, oder besser:  männlichen Frauenkenntnis verstand man dieses “bewußtlos” als ‘ohnmächtig’ und nahm daraufhin an, dass die Marquise sehr wohl von den Geschlechtsverkehr wußte, sie also ihre Unkenntnis simulierte. Die Interpretatoren erörterten in vielerlei Weise das ‘bewußtlose’ Wissenkönnen, übersahen dabei aber, daß das Wort “bewußtlos” um 1800 genau das bedeutete, was sie erst noch begründen wollten: eine Ausschaltung von Sinnen bei gleichzeitiger Handlungs- und Wissensfähigkeit. Hierzu nur ein zeitgenössischer Beleg von vielen: “Bewußtlos vor Entsetzen, springt Berthold hinzu – den Lazzarone bei der Gurgel packen – ihn zu Boden werfen,...alles das ist die Tat eines Moments” (E.T.A. Hoffmann,1818, 136).

 

Das ist eine Verwendung, wie sie auch Kleist zeigt. Der Zustand von Kohlhaasens Frau wird, nach dem Stoß, den sie erhalten hat, so geschildert: “ Wenigstens berichteten die Leute so, die sie, in bewußtlosem Zustand, gegen Abend in den Gasthof brachten; denn sie selbst konnte, von aus dem Mund vorquellendem Blute gehindert, wenig sprechen “ (Kleist 1808, 165). “bewußtlos” bezeichnet also eine Beeinträchtigung des Bewußtseins, aber nicht das völlige Ausbleiben  einer Handlungs- und Reflektionsfähigkeit. Um die geht es aber dem Autor Kleist hinsichtlich der Marquise von O.... Denn er schreibt: “ [der Graf]   bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede den Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank“ (Kleist 1808, 251). Wie auch an anderer Stelle - “  kam mit der Nachricht zurück, daß die Schwester in gänzlich bewußtlosem Zustande darniederliege” (“Die heilige Cäcilie...”, Kleist 1808, 379) - wählt er eine adverbielle Bestimmung, mit der er ausdrücklich macht, daß die Marquise nichts wissen kann, weil sie einer vollständigen Bewußtlosigkeit erlegen ist und ihre Wahrnehmungsfähigkeit vom Erzähler ausgeschlossen wird. Wichtig dann noch zu sehen, wie scharfsinnig Kleist mit dem allgemeinen Wortschatz und seinen zeitgenössischen Konnotationen umgeht: er vermeidet “ohnmächtig”, weil dieses die taktische Absence bezeichnen kann, von der man also weiß, dass sie nur gespielt ist, um Weiterungen zu entgehen.

 

Unscheinbarer ist ein Fremdwort, das völlig selbverständlich ganz modern gelesen wird, obwohl der Wortlaut eigentlich stutzig machen müßte: In der “Judenbuche” von Anette Droste Hülshoff heißt es, “ein unprivilegirter Holzhauer” habe das Gesicht des alten Mergel gesehen. Kommentare erläutern dies als ‘unberechtigter Holzmacher’, ‘Holzdieb’, woraufhin ein weiterer ihn die Besitzordnung bzw. die Gesellschaftsordnung in Frage stellen sieht. Man merkt: hier wird unterprivilegiert gelesen. “Unprivilegirt”  hingegen meint ‘nicht privilegiert, nicht durch Vorrechte geschützt’, also letztlich ‘gewöhnlich’, ein ganz normaler Holzhauer also (Knoop, 2004, 195).

Anders steht es mit “grün”. Hier versteht man bis heute nicht, weshalb Goethe so etwas Widersprüchliches formulieren konnte:

“Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, /


Und grün des Lebens goldner Baum.”

 

läßt er seinen Mephisto zum Schüler sagen (Faust v.2038 u. 2039). Ein goldener Baum kann nicht grün sein. Und so wurde das zum Topos von “hier irrt Goethe”. Etwas milder beurteilt das der Kommentar von Ulrich Gaier, der eine Unvereinbarkeit der Farbangaben sieht und die von ihm sog. Rettung dieser Vorstellung ‘grün und golden’ durch Gottfried Keller als  nicht passend vermerkt (Gaier 1999, 272). Der allerdings gibt, wenn man weiterliest als dessen ersten Absatz, den Fingerzeig für das Verständnis, aus seiner Zeit heraus, 1855, indem er auf die Vorstellung eines vegetativen Grün verweist. Verwunderlich nun, dass die gesamte Goethe-Philologie, allerdings nach 1935, nie dort nachgesehen hat, wo man am ehesten etwas über Wortbedeutungen erfahren kann, nämlich im IV. Band , 1. Abteilung, 6.Teil, oder kürzer gesagt: Bd. 9 der dtv-Ausgabe  des Deutschen Wörterbuchs. Dort gibt es die Bedeutung B, die die Bedeutung des Treibenden, des Frischen ... vor der Farbvorstellung anführt und als Beleg, neben anderen, diese Fauststelle nennt (dtv-Bd. 9, 643). Zu ergänzen wäre hier “grüner Aal” als frischer, gerade gefangener Fisch, der ja eine eher bräunliche Farbe hat. Mephisto spricht also davon, dass dieser Baum, nämlich der Hesperiden, weshalb er golden ist, also nicht grün, lebendig wachsend ist, und dann auch die goldenen Äpfel bereit hält, von denen hier nicht die Rede ist. Die Beleglage zeigt, dass diese Bedeutung damals gängig war - und selbst für uns noch, wenn wir etwas genauer hinhören - , also auch für Goethe mit seinem Wissen des zeitgenössischen Wortschatzes, was dann im Bd. IV des Goethe-Wörterbuchs, 2004 (Geschäft - inhaftieren) unter “grün” den Erläuterungen des Grimm gemäß gedeutet wird (Sp. 511).

Nicht so sicher beraten ist man dann allerdings bei einem anderen Farbwort, “blau”. “Wege waren ... von blauem Sand durchzogen” (Dichtung und Wahrheit, WA I,27,88) und “[Sein] Bart [war] frühzeitig blau [geworden]” (dass., WA I, 27, 35) wird allen Ernstes als ‘blau’ erklärt - ( GWb. II, 759 ff.). Tatsächlich hat der allgemeine zeitgenössische Wortschatz die ältere Bedeutung ‘hell’ im Umlauf, denn ein Bart wird kaum “blau”  werden, vor allem dann nicht, wenn es um den Kontrast zum schwarzen Haupthaar geht. Das Bewußtsein und das Wissen um den allgemeinen Wortschatz, der auch der von Goethe ist, sind für Autorenwörterbücher unerläßlich, und nicht die umgekehrte Auffassung, dass Goethes Wortgebrauch umfänglicher gewesen sei als der zeitgenössische. Hier zeigt sich, dass ein Schriftsteller einen, wenn auch  eindrucksvollen,  Ausschnitt dieses Wortschatzes gibt.

 

Wie gesagt, mittlerweile kommt es zu einem, wenn auch immer noch zögerlichen Gebrauch der Wörterbücher, allerdings mit unerwünschten Nebenwirkungen, weil die bloße Einsetzung einer Wörterbuchangabe noch nicht den Sinn der Textstelle ergibt, vielmehr nur den Ausgangspunkt für die Interpretation.

 

Für “Fräulein” in der berühmten Stelle von Fausts Anrede “Mein schönes Fräulein, darf ich wagen...” (Faust, v.  2605 ff.) gibt Albrecht Schöne in seinem Kommentar (Schöne 1994, 288) die Bedeutungsangabe aus einem zeitgenössischen “Lexicon” wieder: “unvermältes Frauenzimmer, so von adelichen Eltern gebohren (Frauenzimmer-Lexicon 1715, 578)”. Das ist zumindest der Versuch, Verbindung zum zeitgenössischen Gebrauch zu finden, allerdings gleich mit weiteren Schwierigkeiten behaftet. Es ist nämlich fraglich, ob  Goethe seinen Faust das fast ein Jahrhundert nach diesem Eintrag meinen läßt. Denn im späteren 18. Jahrhundert soll “Fräulein” für alle “Demoisellen” gelten, wie Wieland das 1794 in einem Aufsatz fordert, und der Adel  reagiert darauf mit dem Zusatz “gnädiges Fräulein” für seine Töchter. Außerdem ist “Fräulein” in der Äußerung von Faust Teil eines Phraseologismus - “mein schönes Fräulein” - , so dass hier eine Bedeutungsabschwächung durch Konventionalisierung vorliegt. Das wird in der Replik Gretchens ganz deutlich: erst ihr “Bin weder Fräulein...” hebt die Nichtadeligkeit hervor  und macht im zweiten Teil - “weder schön” - auf eine ebenfalls zeitgenössische  Bedeutungsmöglichkeit aufmerksam, die Mephisto klarmacht, wenn er etwas später Marthe vom Lebenswandel ihres Mannes berichtet: “Ein schönes Fräulein nahm sich seiner an. Sie hat an ihm viel Lieb’s  und Treu’s getan, dass er’s bis an sein selig Ende spürte” (Faust, v.2982 ff.). “Fräulein” bedeutet eben auch ‘Hure’, was z.B. Adelung bestätigt: “ehedem bedeutete es eine jede Jungfrau; oft aber auch eine Hure” (1796, 275). Wenn man dann weiter verfolgt, mit welchen Bezeichnungen Faust über Gretchen spricht (Dirne, Geschöpfchen, Püppchen), ist zumindest fraglich, ob Gretchen den Phraseologismus nur deshalb so schlagfertig auseinandernimmt, um die Adelsunterstellung abzulehnen, die in der Redewendung ohnehin nur schwach ausgeprägt ist.

 

Die Wortforschung bringt nicht die Lösung, also den Einsatz eines modernen Wortes als Erklärung, vielmehr deckt sie mit der zeitgenössischen Vieldeutigkeit dieses einen Wortes ein Bedeutungsgeflecht auf und gibt damit die Möglichkeiten einer komplexeren Auslegung der Gretchen-Figur: sie muß wohl wissen, was mit “Fräulein” alles gemeint sein kann, und das verweist sie dem Faust, der davon aber wenig beeindruckt ist (ausführlicher hierzu Knoop 2009, 108).

 

Die Hinweise darauf, dass vor der Inhaltserläuterung der zeitgenössische Wortgebrauch geklärt sein müsse, sind nicht zahlreich, einer kommt aus Heidelberg, nämlich der Dissertation von Roland Reuß, der auf die semantische Differenz hinweist (1990, 85 und A. 280). Deutlich wird an diesen Erläuterungen auch, dass es nicht zuvörderst um die Disambiguierung geht, sondern darum, die verschiedenen Bedeutungen eines Wortzeichens klar zustellen.

 

Die Bedeutung des Differenzwortschatzes ist also für die Inhaltsbestimmung erheblich und er zeigt eine semantische Entfernung vom Sprachgebrauch um 1800 an. Deutlich wurde dies, als die kulturelle Unterstützung zur Rezeption der Klassikertexte brüchig wurde und das auch offen ausgesprochen wurde: nach 1968 ging die Rede vom “alten Plunder”,  um den man sich nicht mehr kümmern wollte. Aktualität der Texte wurde gefordert und teilweise auch praktiziert. Zur gleichen Zeit kam es aber auch zur Begründung von großen und weit ausgreifenden Werkausgaben (Hölderlin [mehrfach], Kleist, Droste, Brentano, Kafka u.v.m.,) sowie zu einer Neufassung der Editionswissenschaft mit verbesserter Kommentierung.

 

Es dürfte deutlich geworden sein, dass das Klassikerwörterbuch nicht Archaismen erläutern will, obwohl das als naheliegend angesehen wird. Der große und einfache Unterschied liegt aber darin, dass Archaismen rhetorisch eingesetzt werden, also noch verständlich sind, und ihre Eigenart darin liegt, dass sie nicht mehr (unbedingt) zum aktiven Wortschatz gehören, weshalb sie mit ihrem Gebrauch eine Besonderheit anzeigen, eine gewisse Patina oder Ehrwürdigkeit, aber eben nicht Unverständlichkeit. Deshalb ist “Kalesche” bei Fontane kein Archaismus, vielmehr für ihn ein ganz naheliegender und für alle zeitgenössischen Leser verständlicher Ausdruck für Fahrzeuge, die man sehen und fahren kann. Wohingegen die heutige scherzhafte Bemerkung, ich fahre Sie in meiner Kalesche nach Hause, archaistisch sein dürfte.

 

 

 4.

 

 

 Das Unternehmen “Klassikerwörterbuch “ akzeptiert die sprachhistorische Ferne dieser Texte und sagt das, was Leser heute ganz unwillkürlich wahrnehmen: es sind fremde Texte, und befragt deshalb diese Leser danach, was ihnen in diesen Texten unverständlich ist - aus welchen Gründen auch immer. Das war das zweite Vorausunternehmen des Projekts.

 

Das erste bestand darin, die wichtigsten Klassikertexte zu bestimmen, um eine Konzentration der Korpusmenge zu erreichen. Das erfolgte über die Lektürevorschläge der Kultusministerien und der Studiengänge für Germanistikstudenten. Daraus erstand ein Korpus mit 70 Klassikertexten. Diese wiederum wurden von Lesern aller Altersschichten gelesen, jeder Text mindestens von zwei Lesern, mit der Bitte, einfach ein Wort oder eine Wendung im Text anzustreichen, wenn es unverständlich erscheint, möglicherweise auch anzugeben, falls dem Leser der Sinn danach stand, warum. Das ergab ca. 90.000 Anstreichungen, die in einer ersten Lemmatisierung zu ca. 32.000 Roh-Lemmata zusammengefaßt wurden. Bezogen auf die 70 Korpustexte ergibt dies eine Verstehensschwierigkeit bei durchschnittlich jedem 6. Wort im Text, natürlich nicht für jedes Wort im Wortschatz. Rohlemma deshalb,weil  die Lemmatisierung nur soweit vorangetrieben wird, dass für den Bearbeiter eine Form greifbar wird, die er aus dem digitalisierten Korpus ergänzt, bearbeitet, daraus das Wörterbuchlemma feststellt und dann den Artikel dafür entwirft. Damit gibt das KWB möglichst jeder lexikalische Einheit einen Artikel und sieht von der Nestbildung völlig ab.

 

 

 

 

 

Obwohl das Klassikerwörterbuch nur ein kleines Textkorpus hat, stellen sich doch Fragen zur Machbarkeit dieses Wörterbuchs. 32.000 Lemma-Kandidaten : in etwa so viele Artikel, zumindest als Verweisartikel. Das ist für die Mannschaft und die Möglichkeiten, die wir haben, zu viel. Deshalb haben wir versucht, die Artikelzahl zu reduzieren, zumal wir immer noch von einem handlichen Druckwerk ausgehen, also einem Einbänder.

In einem Auswahlverfahren sind wir auf ca. 1.700 wichtigste Lemmata gekommen, sowie ca. 6000 hapax legomena, was wiederum dazu paßt, dass ein Einbänder Platz für ca. 8.000 Artikel hat (Maß: die Ausgabe des Etymologischen Wörterbuchs von F.Kluge). Das Verfahren, wie man diese Einkürzung so vornehmen kann, daß sie nicht willkürlich ausfällt, hat Dominik Brückner 2006 dargestellt. Hilfreich war unsere vorher vorgenommene Einteilung aller Lemmata in 20 Fachgebiete, die die Kompetenz für die Bearbeiter und gleichmäßig der Artikelaussage ermöglichen sollte: also alle Tiere, alles was mit Bekleidung etc zu tun hat, so daß die Artikel in ihrer inhaltlichen Ausrichtung gleichmäßig ausfallen und nicht “Tanne” und “Fichte” hinsichtlich ihrer Nadeln etc beschrieben wird, bei “Zeder” aber nur ihr Mittelmeervorkommen und ihre Krone.

 

Erkennbar wird daran auch, daß wir nicht alphabetisch vorgehen, sondern nach Inhaltsgruppen - was einen kleinen Ausblick darauf gibt, daß wir auch die On-Line-Möglichkeit erwägen. Die Artikelbearbeiter sind weitgehend frei hinsichtlich der Einrichtung neuer Artikel, die sich aus ihrer Belegstellensammlung ergeben. Das Artikelschreiben ist also viel direkter mit den Texten verbunden als die herkömmliche Methode der abgeschlossenen Belegauswahl. Das geht freilich nur, weil wir ein Redaktionssystem haben, das einmal die umfassende Suche nach direkten und verwandten Belegen ermöglicht (im Freiburger Textkorpus) und dann der umfänglichen digitalen Notierung vom Rohlemma bis zum Beleg, mit verschiedenen Kommentierungsplätzen, problemloser Verweise, Formvarianten, Bemerkungen zum Arbeitsablauf etc. Raum geben kann.

 

 

 

Das Klassikerwörterbuch ist ein langue-Wörterbuch zu einem (kleinen) Textkorpus des mittleren Neuhochdeutsch, weil sich eine sekundäre Verdunkelung, also Verstehensschwierigkeit, seitens unserer Kenntnisse dieser Sprache um 1800 ergeben hat. Jedes sechste Wort ist nicht auf Anhieb verständlich, obwohl die Texte zum Neuhochdeutschen gehören.

 

Damit verweise ich auf eine sprachepochale Schwierigkeit, nämlich in der Anlage der neuhochdeutschen Epoche und ihrer Bezeichnung.  Zum einen dauert die neuhochdeutsch benannte eine schon längere Weile, ca. 300 Jahre und wird wohl noch länger dauern, also auch zukünftig, denn es zeichnen sich keine gravierenden Veränderungen ab, die in absehbarer Zukunft in eine neue Sprachepoche münden würden. Die Sprachgeschichtsschreibung kommt also an ein Dilemma: a) eine überlange Sprachepoche, mit einem Bereich, der schon jetzt als different angesehen werden muß, oder b) eine neue Sprachepoche, die sich so allmählich verdeutlicht. Dann gibt es aber Schwierigkeiten mit deren Namen. Wie soll eine Sprachepoche, die auf eine neuhochdeutsche folgt, dann heißen ? Eine Frage also für die sprachhistorische Systematik.

 

 

 

Die Arbeit am Wörterbuch macht Spaß, weil sie immer ein Überraschungsmoment enthält: es ist nicht, oder nicht ganz so wie man es gedacht hat. Von daher ist die notwendigerweise vorgenommene Einschränkung der Lemmata natürlich für einen Lexikographen schrecklich. Wie sehr, ist daran zu ermessen, wenn man die Zahl der 695 Differenzwörter “Kleidung”, also Rohlemmata, mit der notwendigen Auswahl vergleicht, nämlich 2: Band und Demant. Trotz der Digitalisierung stehen wir hier wieder vor der Beschränkung durch Papier und Druck bzw. Bandvolumen - auf der anderen Seite natürlich der Beschränkung von Arbeitszeit bzw. finanzieller Mittel, das übliche also.  Dennoch, keine Klage. Vielmehr die Freude daran, daß wir hier ganz im Sinne von Oskar Reichmanns Bemerkung kulturpädagogisch tätig sind und zudem auch noch einem sprachhistorischen Interesse entgegenkommen - unsere öffentlichen Auftritte werden immer gut aufgenommen. Und das ist dann auch der Ansporn weiterzuarbeiten.

 

 

 

Literaturverzeichnis

     

 

Adelung, Johann Christoph (1796), Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Band 2: F bis L, Leipzig 1796. Nachdruck Hildesheim 1990. Mit einer Einführung und Bibliographie von Helmut Henne.

 

Bierwisch, Manfred  (1965), “Poetik und Linguistik”, in : Mathematik und Dichtung. Hg. v. H. Kreuzer. München, 49 - 65.

 

Brückner, Dominik / Ulrich Knoop (2003), “Das Klassikerwörterbuch. Begründung und Erläuterung eines digitalen Wörterbuchprojekts zum differenten Wortschatz in der klassischen Literatur”, in: ZGL 31/ 2003, 62 -86.

 

Gaier, Ulrich (1999), Johann Wolfgang Goethe. Faust-Dichtungen. Bd. 2, Kommentar I, Stuttgart.

 

Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1816), “Die Jesuiterkirche in G.”, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd.3, Berlin und Weimar, 1994.

 

 Kleist, Heinrich von (1808), Erzählungen, in: ders. Werke, hg. v. Erich Schmidt, Bd. 3, Leipzig und Wien o.J. [1904 - 1906].

 

 

Knoop, Ulrich (2004), “Der lexikalische Kommentar. Der differente Wortschatz und die Methodik der Erklärung”, in: editio 18/2004, 186 - 212.

 

 Knoop, Ulrich (2008), “‘Hälfte des Lebens’. Wortgeschichtliche Erläuterungen zu Hölderlins Gedicht”, in: Turm-Vorträge der Hölderlin-Gesellschaft  6 / 1999 - 2007, 46 - 73.

 

 Knoop, Ulrich (2009), “Die Gretchen-Figur im Faust - worthistorisch erläutert”, in: Freiburger Universitätsblätter 185/2009, 107 - 121.

 

Matt, Peter von (2010), “Über die pädagogische Chance orthographischer Differenzen”, in: Der Jugend  zuliebe. Literarische Texte, für die Schule verändert, hg.v. Peter Eisenberg, Göttingen, 49 - 52 (= Valerio 11 / 2010).

 

Reuß, Roland (1990), “... / Die eigene Rede des anderen”. Hölderlins Andenken und Mnemosyne. Frankfurt a. M.

 

Schöne, Albrecht (1994), Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare, Frankfurt a. M.

 

Sonderegger, Stefan (1979), Grundzüge der deutschen Sprachgeschichte. Diachronie des Sprachsystems. Bd. I: Einführung - Genealogie - Konstanten. Berlin und New York.

 

Szondi, Peter (1962), “Über philologische Erkenntnisse”, in: Schriften I. Frankfurt a.M., 263 - 286.