Ulrich Knoop
Das Nichts. Die Sprache. Der Mensch. Überlegungen zu “ich”
Für
Richard, Franziska, Hannah, Jonathan und Ludwig
Marburg
Weihnachten 2011
Teil I
Das Nichts.
1. Die Bedingungen unseres Wissens
Die Frage aus der Kindheit, was machte Gott vor der Schöpfung, hat im weiteren Verlauf des Lebens an Dringlichkeit verloren. Aber unsere Neugier ist nicht zu bändigen. Und so gibt es seit längerer Zeit diejenigen, die uns die Entstehung der Welt auf eine so rationale Weise erklären können, daß die Vorstellung von einer Erschaffung naiv erscheint. Unter den Wissenschaften und ihren Begründungsverfahren ist es vor allem die Astrophysik, die herausgefunden hat, daß unsere Welt auf die Explosion einer verdichteten Gaswolke zurückzuführen ist, die sich vor ca. 18 Milliarden Jahren zugetragen hat.
Es mag schwierig sein, dieser Erklärung etwas Vorstellbares abzugewinnen, sie ergibt sich aber aus den Grundsätzen, nach denen wir unser Leben heute ausrichten und ist insofern folgerichtig. Auf diesen Grundsätzen basieren die Voraussetzung für das, was wir als „technischen Fortschritt“ betrachten und als “Technik” kritisieren. “Technik” freilich ist nicht das Erstaunliche, die hat der Mensch seit alters her. Das Erstaunliche ist vielmehr, daß er die Möglichkeit hat und dann auch die Fähigkeit, Verfahrensweisen und Herstellungen in hochkomplexer Organisation zu bewältigen und zu massenhaft tauglichen Produkten zu bringen, die auf Anhieb verständlich (Auto, Telekommunikation) sind oder erklärt werden können (durch Fachleute). Dabei wird das “Wesen” dieser Technik gar nicht durch die Bestände verstellt, wie Martin Heidegger in seiner Technik-Kritik anmerkt. Die moderne Technik ist ganz offensichtlich Ergebnis des folgerichtigen Denkens, das dazu befähigt, die unübersichtlichsten und komplexesten Gegebenheiten zu bestimmen, zu ordnen und in Abläufe zu bringen, die dann über industrielle Verfahrensweisen zu Produkten führen (Auto, Handy, Rechner), aber auch Bewegungen und Verhältnisse (Mobilität zu Lande, Wasser und Luft, Telekommunikation), Institutionen (Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser, Verwaltungen) oder Dienstleistungen (Geldwesen, Versicherungen) geordnet zu organisieren. Dieses folgerichtige Denken ist selbstreferentiell und von daher so dynamisch, daß es weltweit über alle kulturellen Grenzen hinweg überzeugend ist und jeder es fraglos anwendet. Selbst gegensätzlich empfundene Positionen basieren darauf: sowohl Regenwald vernichtende Industrielle als auch Regenwald rettende Umweltschützer denken folgerichtig.
Folgerichtig denken wir, wenn wir einen (empirischen) Tatbestand als Folge einer Verursachung ansehen. Wir sind zwar gewohnt, zunächst eine Ursache anzusetzen, die eine Folge dann ausgelöst hätte, doch ist es tatsächlich so, daß wir erstmal ein Etwas sehen, also keine “Wirkkraft”(Ursache). Da wir dieses Etwas aber als eine “Folge” verstehen, können wir dann dazu eine Ursache erschließen, ganz so, wie es Kant in dem schönen Bild vom Schiff erläutert hat, das er den Strom hinab treiben sieht. Die Folgerichtigkeit entsteht daraus, daß die Wahrnehmung von dessen Bewegung aus der Wahrnehmung der Stelle oberhalb dem Laufe des Flusses “folgt”, den das Schiff schon verlassen hat (KrV B 237). Kausalität basiert also nicht einfach auf “Ursache” und “Wirkung” oder “Folge”, sie findet ihre weitere Begründung in einem Zeitverhältnis: ich sehe das Schiff nur “unterhalb”, also zur Ursache zeitlich danach, welche wiederum “oberhalb” war, also vorher. Das Aufregende an diesem Verstehensmodell ist nun, daß jedes Ding Folge einer Verursachung ist, die wir ergründen können, um dann Ursachen zu schaffen, die zu planbaren oder erwartbaren Folgen führen. Folgerichtiges Denken (und Planen) ist also er-folg-reich, vor allem aber ist es so viel-versprechend, daß die Diskussion um die mögliche Marginalisierung der “Freiheit” den Siegeszug dieses Denkens nicht aufhalten konnte oder kann. Denn die Möglichkeiten sind riesig: Wenn ich die Ursachen nur richtig bestimme (gesetzmäßig/ wissenschaftlich oder intuitiv/erfinderisch), ergibt sich aus der vorher/nachher-Relation das von mir Erwartete oder Geplante als Wirkung oder Folge. Es ergibt sich aber auch die Notwendigkeiten des Planens und Organisierens: ich kann nämlich aufgrund der mir bekannten Ursachen (die Wissenschaft nennt sie empirische Tatsachen) ausrechnen, was (nachher) eintritt (eintreten kann), und dem gilt es schon jetzt gerecht zu werden. Eine berückende, aufregende Möglichkeit der (notwendigen) Produktivität – und ganz einfach: jeder kann sie verstehen und umsetzen. In ihrer Simplizität ist diese Maxime überzeugend und so hat sie sich in rasender Geschwindigkeit auf der ganzen Welt verbreitet, kein Mensch und keine Kultur kann sich dem entziehen. Das folgerichtige Denken braucht keine Kultur und keine Propheten oder Mandarine, es erzeugt sich selber, ist also selbstreferentiell überzeugend.
Demgegenüber kann die “Genesis”, also die Darstellung von einem Gott, der dieses Universum erwirkt habe, nicht richtig sein, weil sie keine empirische Tatsache nennt, die als Ursache für die Folge (Weltentstehung) genommen werden kann. Diese Darstellung ist deshalb für unseren Verstand nicht (rational) nachvollziehbar. Sie ist eine Erzählung – und Erzählungen, so schön, so wunderschön sie auch verfaßt sein mögen: sie beruhen nicht auf Tatsachen sondern auf Visionen. Die Genesis ist phantasievoll und beeindruckend erzählt, aber sie ist nicht einmal die einzige religiöse Erzählung. Neben der Bibel gibt es zuvor und anderswo noch viele anders lautende Erzählungen von einer Weltenstehung. Phantastik und Vielfalt der Erklärungen genügen unserer Vorstellung von Folgerichtigkeit nicht, weshalb die Wissenschaft von Anfang an die Möglichkeit eines Schöpfergottes ablehnte und zudem die Frage aufwarf: Woher stammt überhaupt die Idee von einem Gott? Da ist es ein zumindest erwägenswerter Gedanke, den Ludwig Feuerbach angeführt hat: der Mensch hat sich selbst Religion und “Gott” geschaffen, diese seien also Erfindungen menschlicher Phantasie. Das klang damals, in den 1840er Jahren, erschreckend. Tatsächlich griff Feuerbach aber nur eine Einsicht auf, die Kant schon lange zuvor geäußert hatte, demnach Gott “ein Product unserer selbstgemachten Vorstellungen” ist. Damit ist keineswegs gesagt, daß es ihn nicht gäbe, wohl aber wird zur Vorsicht gemahnt. Denn wie Fichte anmerkt, können die “gottähnlichen” Eigenschaften wie Absolutheit, Vollkommenheit, Unendlichkeit, aber auch Herrschaft, Lenkung oder das heute so beliebte “Zulassen” (wie kann Gott das zulassen) Gott nicht zugesprochen werden, weil sie von uns Menschen erdacht oder gewünscht sind. Und deshalb können sie nicht angemessen sein, wenn Gott der sein soll, der er ist.
Wie zur Bestätigung von Kant wurde Fichte des Atheismus angeklagt, weil seine Erläuterungen nicht den Vorstellungen anderer entsprachen, also dem, was diese von Gott erzählen wollten oder erzählt bekamen. “Gottesworte” sind immer Menschenwort, inspirierte, kluge, hinreißende. Sicherlich sind sie aus dem überwältigenden Gefühl heraus entstanden, Gott zu rühmen und so werden sie zu recht als “heilige” überliefert. Aber Erzählung, Überlieferung, Übersetzung und philologisch-theologische Eingriffe in die Textgestalt zeigen, daß diese Worte von Menschen geprägt sind.
Diesen Erzählungen der Menschen wiederum fehlen die nachprüfbaren Tatsachen. Nur aus Tatschen allein können Ursache und Wirkung hervorgehen, so daß aus deren Folgerichtigkeit ein Vorgang abgelesen werden kann, der den Gesetzen der Kausalität entspricht. Es geht also um die Bedingungen dafür, daß etwas erfolgen kann. “Gott” ist dies im wissenschaftlich-kritischen Sinne nicht. Klar wird aber auch, daß wir es nicht wissen können, denn alles, was wir wissen, ist Menschenerzählung. Deshalb ist der Gottes-Gedanke mitnichten aufgehoben, gerade die einfache Eleganz des Kausalitätsdenkens führt unser Denken nämlich an den Punkt, wo es fragen muß: wenn alles eine Ursache hat, was ist dann die erste Ursache? Das “vor” der Schöpfung aus der Kinderfrage bleibt also weiterhin rätselhaft.
2. Die Welt ist unendlich
Aber genau damit, nämlich mit den notwendigen Gewißheiten bzw. Voraussetzungen der Wissenschaft, kommen wir auch an ihre Grenzen. Das Kausalitätsgesetz führt uns an den Punkt, wo keine Kausalität mehr gefunden werden kann. Völlig zu recht vertrauen wir auf dieses Gesetz, aber dann, wenn wir die erste Ursache unserer “Welt” erklären wollen, kommen wir an etwas, das für uns unergründlich ist. Man muß für die erste Gasexplosion, auch “Urknall” genannt, voraussetzen, daß Materie schon vorhanden ist, aus der heraus die Ursache für diesen Urknall ersteht (Erhaltungsgesetz). Aber woher kommt diese “schon vorhandene” Materie? Für sie gibt es aus den Herleitungsverfahren der Wissenschaften keine Erklärung. Und selbst wenn, wie wäre dann “Raum” zu erklären, in den hinein die Ur-Explosion “fliegt”, wie es in der wissenschaftlichen Erklärung fast schon poetisch heißt. Dieses “Ausdehnen” erfolgt, aber wo “hinein” wird von dieser “Theorie” der Weltentstehung nicht erläutert und schon gar nicht bedacht. Der Raum scheint auf irgendeine Weise so vorhanden zu sein, daß die erste Explosion ihn für ihre Ausdehnung vorfindet. Das aber erklärt nicht die Entstehung der “Welt” überhaupt sondern allenfalls die “einer” Welt.
Die Weltentstehungserklärungen gehen von einem Ur-Beginn aus, der ausgelöst worden sein müßte: es gäbe also ein Initial. Das haben eifrige Theologen erfreut aufgenommen. Sie sollten es lieber nicht. Denn sie müßten sich dann mit dieser Frage aus der Kindheit befassen und wären der Ungeheuerlichkeit ausgesetzt, Gott vor der Schöpfung zu beschreiben – obwohl: Schelling überlegt sich das – oder sie müßten erklären, daß “Gott” ein Verursacher ist. Demnach wüßten sie, was Gott tut bzw. getan hat. Die Problematik eines Ur-Beginns wird aber ganz anders gelöst.
Aus neueren physikalischen Theorien ergibt sich eine veränderte Sicht auf die “Zeit”. Das “vorher” und “nachher” wird durch einander gewirbelt: im Universum sehen wir etwas, das schon lange vergangen ist oder etwas, das erst sein wird. Außerdem ist die zeitliche Abfolge des Ur-Knall auch physikalisch so nicht gegeben. Gerade der “Zeitpunkt” des “UrKnalls” verliert sich im Unendlichen, denn man kann den Beginn eines (!) Weltraums zwar “zurückrechnen”, aber genau der Beginn-Zeitpunkt, der “Nullpunkt”, kann nicht zu dieser errechneten “Zeitabfolge” dazugerechnet werden. Denn unter einer bestimmten Größe (der “Planck-Zeit”) verlieren Raum und Zeit ihre Substanz, man kann dann nicht mehr von einer Zeit-Eigenschaft sprechen: Der Lichtstrahl, ausgesandt von einem solchen Ereignis, braucht unendlich lange Zeit. Dazu paßt, daß man mittlerweile von der Entstehung vieler Universen ausgeht, wovon “unseres” nur eines wäre. Angenommen wird eine unerschöpfliche Vielfalt und dann ist der Gedanken an eine unendliche Welt – oder unendlich viele Welten – nicht mehr fern.
Der Raum hinwiederum kann zwar als entstehend gedacht werden, so daß sich seine Ausdehnung erst ergibt. Damit ist aber der Entstehungsgedanke in seiner Folgerichtigkeit einigermaßen und in gewisser Hinsicht aufgehoben, und die Einwendung gegen diesen Gedanken gar nicht so unplausibel. Wie ist die Welt entstanden, fragt man, und erhält die muntere Antwort: gar nicht, die ist schon immer so. Wir Menschen müssen also aufgrund unserer Denk- und Begründungsmöglichkeiten davon ausgehen, daß die “Welt” unendlich ist. Natürlich sind für unsere Gedankenführung und die Darstellung dieser Gedanken einschränkende Annahmen nötig, aber die Welt könnte auch ohne Anfang und Ende sein. Das legt Aristoteles insofern prägend für unser Denken dar, daß nämlich das Unbestimmte des Unendlichen für das Endliche bestimmt werden muß, insofern das Unendliche als Möglichkeit unbegrenzten Fortgangs bestimmt wird (man kann einer Zahl z. B. immer noch eine anfügen und so fort bis ins Unendliche: also Hegels “schlechte [aber praktizierbare] Unendlichkeit”) – und wir lesen es dann im 20. Jahrhundert beim Mathematiker David Hilbert ganz ähnlich, dessen Axiomatik es ermöglicht, die von den Erhaltungsgesetzen geforderte Ursächlichkeit (nihil est sine creatio) mit einer Unendlichkeit des Alls zu verbinden, indem er in einem zur Kugelfläche gekrümmten Raum eine mögliche Erklärung sieht. Das gilt also für eine gewisse Praxis, so daß man heute eher von einer Brauchbarkeit von Theorien und Überlegungen spricht, als daß man sie als “wahr” im Sinne von letztgültiger Richtigkeit ansieht.
3. Sein und Nichts
Aus diesem Mangel an Erstursächlichkeit geht hervor, daß die Ereignisse und ihre Folgen unendlich sind, denn gemäß der genervten Einwendung von Arthur Schopenhauer können wir das Gesetz der Kausalität nicht so verlassen wie einen Fiaker, den man, angekommen, wo man hingewollt, nach Hause schickt. So wie wir denken, können wir uns keine Erstursache vorstellen. Das stellt die bekannte Auffassung in Frage, daß Gott selbst unendlich sei (seine Eigenschaft), was aber nicht zutreffen kann, weil er dann wie die “Welt” wäre oder gar die Welt selbst wäre (Pantheismus). Wir müssen uns zudem auch darauf einstellen, daß diese unendliche Dauer und Erstreckung nur für das gilt, was ist, so wie es auch die saloppe Antwort auf die Frage nach dem Beginn ganz unwillkürlich anzeigt: das ist schon immer so. Dieses “Sein” ist allerdings etwas, das auch und gerade in seiner unendlichen Erstreckung herausragt, eminent ist, sich ereignet und in seiner (Be-)Greifbarkeit (banal: Wiederholbarkeit) Halt und Sicherheit in dieser Welt gibt. Dieses “Sein” setzt sich also gegen etwas ab, das es nicht ist. Und da das Sein alles ist, kann das nur das Nichts sein. Das ist gar nicht so überraschend, denn das beschäftigt das abendländische Denken seit seinen griechischen Anfängen und führte in seinem Verlauf zu der berühmten Frage: “Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?” Diese Fragestellung beinhaltet allerdings auch schon die Schwierigkeit, über dieses “Nichts” zu reden, denn die Frage fragt: “Warum ist...nicht vielmehr Nichts?” und setzt dabei ein “Sein” des Nichts voraus. Das allerdings kann vom “Nichts” füglich nicht gesagt werden, weil “Nichts” geradewegs besagt, daß über ein “Sein” des “Nichts” nichts zu sagen ist. Aber auch diese Aussage ist verfehlend, weil das “Nichts” nicht von der Art ist, daß etwas über es ausgesagt werden könnte, nicht einmal, daß über dieses “Nichts” nichts zu sagen ist, weil mit “sagen” selbst die Möglichkeit des sich Äußerns über das “Nichts” nie und nimmer gegeben sein kann. Und dann: diese Aussage bewegt sich noch im Umfeld von “Etwas”, wenn auch in der Art, daß nichts über es zu sagen ist. Das “Nichts” ist aber kein Etwas, auch kein negiertes, wie z. B. das Einhorn, der Wolpertinger oder der unegoistische Mensch.
4. “Nichts”: ein “sinnloses” Wort?
Können wir es “spüren”? Heidegger ging davon aus. Er sah in der “namenlosen” Angst die “Erfahrung des Nichts”, so nämlich, daß wir in dieses Nichts hineingehalten werden und darüber erfahren, daß das Seiende von uns abrückt, weil “das Nichts nichtet”. Dieser Satz wurde vom logischen Empirismus als typisch für “metaphysische” Äußerungen angesehen, weil ein Wort erfunden würde (nichten), das gar keine Bedeutung haben könne. Man könne nicht nichten. Außerdem sei “Nichts” einfach “nicht etwas”, weshalb der Satz (das Nichts nichtet) ein Beispiel für “sinnlose Sätze” (aus der “Metaphysik”) sei. Diese Sätze hätten keinen empirischen Gehalt. Allerdings klingt das etwas altjüngferlich, indem man zunächst weiß, was “Sitte” ist, also in diesem Falle, ganz unabsichtlich gewiß, ohne empirische Analyse “Sinn” konstatiert, und dann das, was man nicht “verstehen” kann, per Dekret als “sinnlos” ausschließt. Diese Argumentation “sinnlos” hat mittlerweile eine große Verbreitung im “Allgemeinwissen” gefunden, aber philosophisch ist es ganz still um sie geworden, zumal auch Carnap alsbald aus eben den Gründen davon abgerückt war, die ihm Roman Ingarden vorgelegt (1930er Jahre) hatte: der Satz, der die Sinnkriterien formuliert, ist weder analytisch “wahr” noch empirisch beweisbar, weshalb das Verdikt, etwas sei sinnlos, selbst “sinnlos” ist.
5. Das “Nichts” und die “Leere”
“Nichts” ist unergründlich und aufregend. Heidegger greift das auf, wenn er die Langeweile-Stimmung als Hineingehaltensein in das Nichts ansieht. Demnach hätte das Seiende eine Grenze ... Aber wo wäre die auffindbar? Das “Hineinhalten” vollzieht sich ausschließlich im Seienden und “Nichts” wird hier verstanden als leerer (erschreckender) Raum. In der philosophischen Tradition gibt es noch andere solcher Gleichsetzungen wie “das Nichts ist nichts”, “ist das Nichtseiende” oder “die Negation”. Alle Synonyme zeigen ein erstaunliches Vertrauen in einen Schöpfergott, denn wenn das “Nichts” nur der leere Raum (das Nichtseiende, die Negation) ist, dann muß es einen geben, der diesen Raum (dieses Nichtseiende) geschaffen hat (die Negation erwirkt). Das Nichts ist aber kein “Raum”, in den etwas (die Existenz) hineingehalten werden kann, denn dann wäre es ja etwas. Allerdings ist der Gedankengang von Hei degger vielversprechend, denn er kommt mit dem Wort “nichten” von der Widersprüchlichkeit des “das Nichts ist etwas, das nicht ist” weg.
Das “Nichts” kann nicht die “Leere” sein, mit der Hegel seine “Logik” begründet, auch nicht das “Grauen”, die “Kälte”, die “ungeheure Weite”, das “Ungeheuerliche” oder das, was wir umgangssprachlich so benennen, wenn jemand “davor” steht (“er steht vor dem Nichts”). Über solch “sinnliche” Auffassungen des “Nichts” macht sich schon der Roman “Nachtwachen des Bonaventura” von 1805 lustig: “Hu! Da ist ja schrecklich einsam hier im Ich ... nirgends ein Gegenstand, und ich sehe doch – – das ist wohl das Nichts das ich sehe...”.
6. Das Nichts und der (begründende) Satz
Das “Nichts” fügt sich nicht in die Formen der Bestimmbarkeit ein, es kann nicht beschrieben und schon gar nicht definiert werden. Denn es entzieht sich dem Aussagbaren. Aussagbar ist nur das “Urteil” (ältere Philosophie) oder der “Satz” (jüngere Philosophie), also das sprachliche Gebilde mit Subjekt und Prädikat, z. B. “Die Uhr tickt”. Der Satz ist gemäß der allgemeinen Auffassung die kleinste, für sich verständliche semantische Einheit, und diese Verbindung zweier Elemente ist grundlegend für die philosophische Aussage. Das hat das abendländische Denken als Begründungsduktus grundlegend bestimmt, bis ins 18. Jahrhundert, nämlich als “Wahrheit”, die nur aus einer Übereinstimmung von Urteil und Sein hervorgehen könne (da hatte man noch nicht die Frage nach der Erstverursachung der Welt zu beantworten bzw. beantwortete sie religiös). Obwohl dann Kant nur noch von einer Einhelligkeit oder Übereinstimmung der Vernunft mit sich selber sprach, gilt der “Satz” bis in unsere Zeit als die bündige Aussage.
In unserer Sprache kennen wir sog. Einwortsätze: “Feuer!”, “Achtung!”, denen fehlt das Verbindende (“...ist ausgebrochen”; “dort ist was”) bzw. man weiß durch die Expressivität, was sie besagen sollen, so daß wir uns denken können, was sie bedeuten. Wir können “Nichts” sagen und ein anderer hört es, wir können ihm aber nichts Weiteres dazu sagen, denn der mögliche Satz “Das Nichts ist überhaupt/absolut nichts” ist zwar sprachlich-formal möglich (so wie: “das Wasser ist trocken”), mißachtet aber den Umstand, daß “Nichts” nicht zu einer Übereinstimmung von Urteil und Sein in einer “ist”-Aussage gebracht werden kann.
Das gilt auch für den Versuch, “Nichts” aus der Verständigung auszuschließen, weil es nichts sei: “das Nichts gibt es nicht”. Seltsamerweise ist es uns verwehrt zu sagen, daß es etwas ganz und gar nicht gibt. Selbverständlich müssen wir uns nicht danach richten, wenn jemand behauptet, etwas gäbe es, von dem wir meinen, das gäbe es nicht. Wir meinen das zu Recht, weil wir es nicht erfahren haben und – mehr noch –, weil es nicht erwiesen ist. Dann richten wir uns danach, aber sprachlich ist es uns nicht möglich, das auszuschließen, weil das Wort sprachlich gegeben ist.
Wittgenstein greift dieses Denken-Sagen-Problem auf: wir können nicht sagen, was wir nicht denken können und “denken” wiederum ist eben die Weise, wie wir die Dinge folgerichtig bestimmen, d. h. einer Sache (Sein) eine Bestimmung (Urteil) hinzu zufügen. Selbverständlich kann man mit jedem Wort einen Satz bilden, z. B.”Der Regen ist feurig”, also auch mit dem Wort “Nichts”, z. B.”Er steht vor dem Nichts” oder “Das Nichts ist die große Leere”. Aber die Überlegungen zuvor haben ja ergeben, daß damit das Nichts als seiend vorausgesetzt wird. Wenn das “Nichts” die Bedeutung haben soll, die es hat, dann kann es keine Aussage über es geben, die seine Seiendheit voraussetzt. Umgekehrt sind Aussagen über etwas, das nicht seiend ist, nicht möglich, weil es an Substanz fehlt. Denn das, was sich “außerhalb” der Unendlichkeit des Seienden befindet, ist für uns unfaßlich und so auch unsagbar. Damit ist das Problem ausgesprochen: ein Urteil, eine Aussage ist mit “Nichts” im wohlverstandenen Sinn nicht möglich.
Das “Nichts” ist nicht zu denken, wir kommen hier an eine Grenze. Wir können sagen: ich denke nichts. Das meint, daß ich an nichts Spezifisches denke, mein Denken “leer” mache, ich denke aber immer noch, allerdings nicht das “Nichts”, denn dann müßte ich das Denken unterlassen, weil das “Nichts” keine Bestimmungen zuläßt. Ein Mensch kann sich als reflektierendes Ich nicht selbst verlassen und selbst wenn er das könnte, könnte er das nicht mitteilen, weil er dazu die zweistellige Satzaussage wählen muß. Das weist auf die Besonderheit des Wortes “Nichts” hin.
7. “Nichts”als Wort
“Nichts” ist ein seltsames Wort. Es ist Signifikant (Wortzeichen): “N–i–c–h–t–s”, aber es gibt kein Signifikat (sprachlich erläuterbare Sache, Sachverhalt), worauf es hindeuten könnte. Es fehlt also das, was für alle anderen Signifikanten gilt: sie werden durch Signifikanten erläutert. Wir können uns über Wörter verständigen, also z. B. auch über “Gott”, den es ja nach Meinung vieler gar nicht geben soll oder kann. Entscheidend ist aber, daß auch diejenigen, die eine Existenz “Gottes” ablehnen, der Bedeutungsbeschreibung “Höchstes Wesen für Angehörige einer Religion; höchster, freier Geist” ohne Weiteres zustimmen können, denn genau das wollen sie ja ablehnen, so daß zuerst bestimmt werden muß, was sie ablehnen wollen, sonst hat ihre Ablehnung keinen Gegenstand – das Problem aller Atheisten. Kant: “Nun kann sich niemand eine Verneinung bestimmt denken, ohne daß er die entgegengesetzte Bejahung zum Grunde liegen habe”. Hinsichtlich “Nichts” ist eine solche entgegengesetzte Bejahung, wie zu sehen war, nicht möglich, weil für “Nichts” kein Prädikat (“erscheint”, “bewirkt” usw.) zutreffen kann, schon gar nicht die Kopula “ist”. Aber auch erläuternde Synonyme wie “Ungeheures, Chaos, Abgrund” treffen nicht zu, weil sie samt und sonders ‘konkret’ sind, selbst “Leere” nicht, weil dieses räumlich zu verstehen ist, leerer Raum, wohingegen das “Nichts” auch kein leerer Raum sein kann, sonst wäre es ja etwas.
Das Wort “Nichts” hat aber eine Bedeutung. Allerdings können wir uns darüber nicht aussprechen. Dieses Wort ist diskurswiderständig. Und so ist das Wort “Nichts” ein Zauberwort: es ist da in unserer Sprache, aber es kann nicht mit anderen Wörtern in einem Satz verbunden werden. Diese sprachliche Besonderheit ist schon länger bekannt. Leonardo z. B. notiert in sein Tagebuch: “das, was als Nichts bezeichnet wird, ist nur in der Zeit und in den Worten zu finden”. Friedrich Hebbel 300 Jahre später ähnlich: “Alles kann man sich denken Gott, den Tod, nur nicht das Nichts... man kann sich freilich ein Nichts neben einem Etwas denken, ich meine aber das Nichts überhaupt, das Nichts an der Stelle des Alls, das Nichts ohne Vergangenheit und Zukunft, das Nichts, welches nicht allein die Wirklichkeit sondern auch die Möglichkeit alles übrigen ausschließt”. Und er merkt auch an, daß sein Erläuterungsversuch dem Wort “Nichts” nicht gerecht werden kann: Im Denken an das Nichts schenkt man ihm “den Namen, der es schon zu Etwas macht und es aus der Sphäre der Unentscheidbarkeit, der es angehört, erhebt”.
8. “Nichts” – ein sonderbares Wort
So weit ich sehe, ist das “Nichts” eines der wenigen Wörter, über das ein Austausch der Bedeutungsvorstellungen nicht möglich ist, vielleicht sogar das einzige. Das kommt mit seiner Bedeutung überein, etwas zu bezeichnen, das uns nicht zugänglich ist, weil es nicht unter den Bedingungen unserer Seiendheit steht. Daraus ergibt sich ein interessantes Problem: das “Nichts” ist unbegreiflich und nicht zu erklären. Es fällt auch nicht unter die gedanklichen Schwierigkeiten, die man Antinomien oder Paradoxien nennt.
“Nichts” entzieht sich der Bestimmung überhaupt, deswegen ist es uns aber nicht unbekannt. Als Wort ist es uns gegeben. “Nichts” ist deshalb etwas anderes als das “Unsagbare”, über das Kant spottet, daß die Besitzer dieses Unsagbaren dieses möglichweise im Kopf haben, es “unglücklicherweise” aber nicht aussagen und mitteilen können. Allerdings ist das Artikulierte, also das Ausgesagte immer schon die Negation des (noch) nicht Ausgesagten – Wittgenstein spricht von “Grenze ziehen”, De-finition besagt es auch –, weshalb für Hölderlin – und auch für Hegel – das Ungenannte zwar negativ aber dafür um so “ausdrüklicher” hervorgerufen und übertragen wird. Das zeigt dann auch die Schwierigkeit des Erzählens von Gott: es kann nie genug sein, es muß festlich, erhaben sein und ist dennoch menschlich begrenzt, obwohl es von einer Unerschöpflichkeit erzählen will (und muß). Das gilt dann genauso für die prosaische Literatur und ihre Beschreibungen, sie verliert sich im Genannten und hat es schwer, das Ungenannte ahnen zu lassen. Anders die Lyrik, wo mit der Nennung des Wortes nur etwas angedeutet wird und mit hoher Sprachkunst eine Stimmung (Max Kommerell) herbeigerufen wird, die nicht verifizierbar ist: “Füllest wieder Busch und Tal /Still mit Nebelglanz / Lösest endlich auch einmal / meine Seele ganz” (Goethe, An den Mond, 1. Strophe) – der angesprochene “Himmelskörper” dürfte hier nicht oder in anderem Sinne gemeint sein und wir schwingen ein in das Nachdenken darüber, was hier angerufen wird, aber nicht gesagt, allenfalls angedeutet wird.
“Nichts” hat hingegen einen aussprechbaren Stand in unserem Gedankenhaushalt, weil es sagbar ist, allerdings nicht in der gewöhnlichen, logisch geforderten Form eines Aussagesatzes. Ein Wort hingegen kennen wir zwar alle, aber wenn nicht mitgeteilt werden kann, was und ob es etwas bedeutet, verbleibt es beim einzelnen Menschen. “Nichts” wäre dann die Anzeige, daß ein Wort in unserer Welt ist, das zum einzelnen Menschen spricht, aber eben nur so, daß der Einzelne es vernimmt und mit ihm umgehen kann, wenn er es hört bzw. wenn er es hören will.
Die Meinung, da es das Nichts sei, müsse man sich nicht darum kümmern, verfehlt die Sonderbarkeit dieses sprachlichen Zeichens, seine Einmaligkeit. Andere Wörter, die etwas bezeichnen, das es nicht gibt bzw. das nicht gezeigt werden kann, referieren auf etwas, von dem erzählt werden kann, von dem sogar Bilder gemalt worden sind. Obwohl diese Dinge nicht vorhanden sind, existieren Vorstellungen davon, also: “Atlantis”, “Einhorn”. Außerdem sind da noch die Abstrakta, die man auch nicht zeigen kann, deren Wortzeichen aber auf etwas verweisen, über das eine Verständigung möglich ist (“Vertrauen”, “Politik”, “Gerechtigkeit”).
9. Die Botschaft des Wortes “Nichts”
“Nichts” ist also ein sonderbares Wort. “Nichts” trägt eine Botschaft. Und dieses Wort-Sagen setzt vieles frei, was gerade für “Nichts” interessant ist. In der Geschichte des Nachdenkens gibt es vielfache Versuche, über das Wort “Nichts” und sein mögliches Aussprechen nachzudenken. “Nichts” erinnert daran, daß das Seiende möglicherweise nicht alles ist, ein Gedanke, der, zunächst von Plotin entwickelt, viele Denker in seiner Nachfolge bewegt hat: wir Menschen ahnen etwas von einem für uns Undenkbaren und auch Unnennbaren. So entsteht bei Eckhart, Seuse und Tauler (den “Mystikern”) der Gedanke, daß der Mensch in ein lauteres Nichts versinken solle: er solle sich ‘vernichten’, um einem Gott näher zu kommen, der im namenlosen Nichts ist.
In vielen Fällen wird das überlagert mit der Anfangsüberlegung, nämlich, wie hat das Seiende “angefangen”, und führt dazu, in diesem “Nichts” dessen Ursache anzunehmen, weil ja das Seiende von etwas anderem in Gang gesetzt worden sein muß als es selber ist, einer göttliche Macht also. Von hier aus ergibt sich die im Abendland weit verbreitete Auffassung von der creatio ex nihilo, der Schöpfung aus dem Nichts, die über Jacob Böhme bis zu Franz Baader lebendig geblieben ist und heute die kosmologische Debatte in Gang hält.
Eine solche Aussage bringt das “Nichts” wieder in Sätzen unter. Dabei verkenne ich nicht, wie sehr diese Aussage von der Wucht des “Nichts” beeindruckt ist, dennoch gibt es keine Möglichkeit, hieraus das Wirken eines Gottes zu begründen oder gar zu erfahren. Denn alles ist verhüllt vom “Nichts” und das erstreckt sich erst recht auf das Räsonnement, unsere Vorstellung davon, was ein Gott tut oder tun kann. Diese Vorstellung mag zwar erbaulich sein und erzählerisch schön, aber sie kann unmöglich zutreffen, da Gott kein Objekt unserer Vorstellungen sein kann. Deshalb sollte die Bedingung des Wortes “Nichts” ernst genommen werden, daß es nämlich nur als Wort, nicht aber als Teil eines intersubjektiv verständlichen Satzes sein kann. Die Eigenart dieses Wortes ist dann nicht nur die, daß es in seiner Bedeutung nicht expliziert werden kann, sondern auch die, daß ein jeweiliges Ich dieses Wort nur für sich verstehen kann. Das verlagert die Überlegung über das “Nichts” in das Ich. Die Menschen kennen das Wort “Nichts”, aber nur das jeweilige Ich kann sagen, was das bedeutet, allerdings nur für sich, ganz alleine, ohne Gesellschaft der anderen. Das Ich selbst ist allein dem Wort “Nichts”, nein, nicht: ausgesetzt oder hineingehalten in eine Schrecknis, aber: nur das Ich kann das Wort erfahren. Damit ist der Bereich des (Ver-)Spürens, des Ahnens oder des “Fühlens” aufgetan, dem wir wegen der fehlenden Begründbarkeit nicht viel Substanz zutrauen, dem wir aber hier unausweichlich ausgesetzt sind. Des Menschen Individualität ist unaufhebbar, gerade weil er eine Ahnung vom Nichts hat.
10. Michelangelos “Adam” und das “Nichts”
Anders als Worte kann die Kunst des Menschen Verhältnis zu “Nichts” und Gott darstellen. Von Michelangelo gibt es einen Gemäldeteil im Zyklus der Sixtinischen Kapelle: die Begegnung Adams mit Gott, gemeinhin “Die Erschaffung Adams” genannt. Aber: dieser Adam ist erschaffen, die Titelgebung also zweifelhaft. Michelangelo malt Adam, “den Menschen”, einen wundervollen, voll ausgebildeten Menschen, schön und souverän liegt er als ganzer Mensch auf der Erde. Seine Hand ruht auf seinem Knie und Gott, der ihm nahe ist, streckt die seine nach ihm aus. Es kommt zu keinem Händeschluß mit diesem Gott und so ist zwischen ihm und dem Gott – nichts. Keine (Paradieses-) Mauer, kein sonstwie geartetes Hindernis, keine Ver- oder Gebote, keine Verschleierung, kein Dornbusch. Also wäre Gott für Adam so sichtbar wie für uns, die wir das Bild anschauen: wir alle würden Gott sehen (!). Adam hat die Augen weit geöffnet, auch er könnte diesen Gott sehen und die Verbindung zu ihm suchen. Offensichtlich tut er das aber nicht. Er hält seinen Zeigefinger gesenkt, streckt ihn also diesem Gott nicht entgegen. Er sieht diesen Gott nicht, zum Glück nicht: Wer Gott sieht, hat mit dem Leben abgeschlossen, er tritt durch die Pforte des Todes, so wie Semele, die den Gott sehen wollte und vom Blitz getroffen wurde – und daraufhin? Sie kann es nicht mehr erzählen. Adam sieht Gott also nicht, sehen wir ihn?
Wittgenstein verneint das in einer Erläuterung zu diesem Bild mit der Begründung, daß selbst ein anders aussehender Gott nicht abgebildet werden kann, also überhaupt keiner. Wenn er dann sagt, daß die Wirklichkeit Gottes in dem Bilde liege (und nicht im Abbild), dann trifft sich das mit der entscheidenden Distanz von Adam zu Gott: zwischen ihnen ist nichts, nichts Seiendes. Diese Spanne des Nichts ist absolut, unüberbrückbar, die Darstellung dieses “jovialen” Gottes lediglich eine schmückende Vorstellung dafür, daß da etwas “in der Luft” liegt. Adam hat den Kopf erhoben, er ahnt es also. Mehr kann diese gemalte Gottesfigur nicht sein, die Andeutung einer Ahnung, einer Ahnung, daß im Nichts der Gott spürbar sein kann.
Das ist ein Bild, ein bewegendes zumal und es wäre leicht, nun zu sagen, das sei Gottes Botschaft, also die Botschaft eines Gottes. Wenn es nicht um das “Nichts” ginge.
11. Das “Nichts” und die Erfahrung
Wir müssen uns damit begnügen, daß wir in unserer Seiendheit etwas ganz Eigenartiges erfahren, etwas, das mit dieser Seiendheit nichts zu tun haben kann und uns trotzdem, oder gerade deshalb unergründlich ist. Unaufhebbare Unergründlichkeit – etwas, das wir modernen Menschen gar nicht gerne haben. Es macht uns unsicher. Aber diese Erfahrung ist wohl das einzige, das uns in unserer erforschten und erforschbaren Welt zeigt, daß die angenommene Unendlichkeit des Seienden zwar unerschöpflich ist, aber nicht alles, was sie im innersten zusammenhält, sonst gäbe es dieses Wort “Nichts” mit seiner Botschaft nicht. Vielleicht gibt dieses Wort einen Hinweis darauf , was die überlieferten Worte Jesu meinen könnten, wenn er sagt: Mein Reich ist nicht von dieser Welt (Joh. 18,33). Allerdings zeigt diese biblische Erzählung dann auch etwas, das wir nicht nur aus dieser Überlieferung erfahren, vielmehr auch an uns selbst. Wir werden geboren und wissen uns allmählich selbst im Lauf der Jahre (Selbst-Bewußtsein), so daß sich die Frage ergibt, woher wir kommen, woher dieses Wissen und seine Grenze (Geburt) stammen. Wir sterben und viele sagen, dann bleibt nichts von uns übrig, bleibt dann “Nichts” von uns übrig? Wenn nichts bleibt, dann gehen wir ins “Nichts”, so nennen wir das. Und was geschieht, wenn wir nichts wissen und dann wieder
etwas wissen, nämlich beim Erwachen aus dem Schlaf, während dessen wir nichts wissen und auch nicht sagen können, wo wir sind?
12. ‘Der Schatten dieses Nichts zieht wohl zu Zeiten an der Stirn vorüber’
“Nichts” ist nur ein Wort. Selbverständlich wissen wir, daß Wörter, Wendungen und Satzbau, die Sprache also, von Menschen gemacht wurden und werden, also stammt selbst dieses Wort vom Menschen oder von Menschen. Aber wer genau war es und wann hat er oder sie oder haben sie das Wort geprägt? Wir wissen es nicht. Wurde uns das Wort eingegeben? Das wohl auch nicht. Aber daß mit Wörtern Ahnungen verbunden sind, die über das hinausgehen, was wir wissen, das teilen uns die Erzählungen zu Anfang beider Testamente mit. Die eine Erzählung sagt, daß der Gott, von dem sie berichtet, gesprochen habe und dann sei die Welt entstanden, und die andere, daß das Wort selbst bei Gott gewesen sei. Es gibt offensichtlich Menschen, die eine Ahnung davon haben, daß Worte etwas vernehmen lassen können, das über unsere Weisheit hinausgeht.
Eigentlich wunderbar: etwas, ein Gedanke, ein Wort schwingt in (!) diese Welt herein und zeigt etwas an, das nicht von dieser Welt ist. Und wir erfahren davon, allerdings auch, daß es undeutbar ist. Der einzelne Mensch kann etwas vernehmen, das in der ganzen Seiendheit nicht vorkommt. “Nichts” hat eine Botschaft für den Einzelnen: das Wort kündet von Undenkbarem.
Nun könnte man sich überlegen, daß “Nichts” von dem künden würde, was für uns undenkbar ist und doch für viele anwesend. Ein solches Undenkbares ist Gott und vielleicht ist “Nichts” das einzige, das wir von
ihm vernehmen, was auf ihn hindeuten könnte: Das “Nichts” könnte Gott sein. Mystiker haben in diese Richtung gedacht.
Für uns wiederum könnte das Wort "Nichts” ein Anhaltspunkt dafür sein, daß aus unserer Weisheit Unerklärliches erstehen kann. Das wirft die Frage auf, was es denn sein könnte, was das auslöst. Denn Hirngespinste sind es nicht. Hier wird keine Welt innerhalb oder außerhalb unserer verstehbaren Welt ausgedacht, ein “Paradies” z. B., also etwas zweites, das aber so oder so ähnlich organisiert ist wie die erste (Welt). Das Wort “Nichts” führt uns lediglich an das Ende unserer Vorstellungen, Phantasien, schlichtweg an das Ende unserer Denkmöglichkeiten. Das Wort “Nichts” sagt uns aber auch, daß dieses Ende erreicht ist. Über solche Endpunkte der Reflexion finden sich vor allem bei Kant klare Worte. Zum Verhältnis von Vernunft und Gott, in dem die Vernunft allerdings immer noch etwas (mehr) weiß und hier eine überhöhte Position gegenüber dem Gottesglauben einnehmen kann, sagt er: “Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen: daß ein Wesen, welches wir uns als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns, und die größte Vollkommenheit, wie die kleinste, schwebt ohne Haltung bloß vor der spekulativen Vernunft, der es nichts kostet, die eine so wie die andere ohne die mindeste Hindernis verschwinden zu lassen.” Die Kinderfrage kommt hier zu philosophischen Ehren.
Für das Wort “Nichts” hingegen sind die Überlegungen einfacher, sicherlich ist es zu “ertragen” und viele nehmen es gar nicht als so außergewöhnlich wahr, da es sich nur meldet, aber keine Ansprüche benennt. Allerdings kann die spekulative Vernunft es nicht verschwinden lassen, das Wort bleibt. Die Vernunft kann allenfalls sagen, dieses Wort benenne etwas Unvernünftiges und deshalb taugt es nicht für den (Urteils-) Satz, wohl aber gehört es zur Sprache.
“Nichts” ist ein Wort unserer Sprache, es ist uns nicht zugeflogen, es ist aus der Arbeit unserer Vorfahren an der Sprache erwachsen, nämlich so geprägt erst seit ungefähr 500 Jahren (ichts ‘etwas’, verneint als n-ichts, ‘nichts’, seit etwa 1500: das “Nichts”). Es ist weltlich, es ist aus unserer Welt, nämlich gemäß unseren sprachlichen Gesetzen für die Wörter gebildet. Aber die sprachliche Erklärung ist schwierig. Deshalb ist auch die Bedeutung in J. C. Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch von 1782 im Artikel “Nichts” so beschrieben:
“Im schärfsten, engsten philosophischen Verstande, wo nur dasjenige nichts ist, was nicht nur nicht vorhanden ist, sondern auch nicht vorhanden seyn kann, nicht möglich ist; Nihilum negativum. In diesem Verstande sagt man, nichts könne nicht etwas werden, oder aus nichts könne nicht etwas werden. Wo es denn auch in Gestalt eines Hauptwortes vorkommt, das Nichts, ein Nichts.”
Und im “Historischen Wörterbuch der Philosophie” gibt es einen Artikel “Nichts, Nichtseiendes”, der so beginnt: “‘Es ist ein ganz artiges Bestreben unserer Philosophen, das denkbare Nichts zu einem erkennbaren Etwas zu machen.’ Diese Worte F. M. Klingers können auch eine Erklärung dafür sein, daß der Ausdruck ‹Nichts› (N.) in einem begriffsgeschichtlichen Lexikon behandelt wird, in dem der Begriff als begriffener Begriff – auch wenn er für gar nichts Bestimmtes steht, überhaupt nichts repräsentiert, schlechthin nichts bezeichnet – zu Ehren kommt und als ‘Etwasʼ angesehen wird.” Es ist freilich interessant, Klingers ganze Stellungnahme von 1842 zu lesen. Er stellt nämlich dann die Frage, die auch mich beschäftigt: “Aber hätten wir wohl dieses Bestreben in uns erschaffen und aus uns herausziehen können, wenn es nicht wirklich da und nöthig wäre? Dem Spötter selbst fährt wohl zu Zeiten der Schatten dieses Nichts an der Stirn vorüber.”
“Nichts” ist eine Botschaft. Möglich wäre, daß “Nichts” uns zu denken gibt, wenn es als ‘Schatten an unserer Stirn vorüberfährt’ –, ob die Welt des Seienden trotz ihrer Universen und ihrer Unendlichkeit alles das erkennbar werden läßt, was überhaupt angelegt ist – es gibt ja immer noch das Empfinden, daß wir nichts wissen können. Vielleicht ist auch das ein Ausdruck für das, was uns das Wort “Nichts” erahnen läßt und was uns Menschen einen so eigenartigen Stand in der Welt zuteilt, eben bis dahin, daß wir das Schöne, also etwas ganz Unnatürliches, hervorbringen und entfalten – aber davon mehr im Schlußabschnitt des 3. Teils, der bald folgt.
Damit endet der erste Teil “Das Nichts” in der neuen Fassung vom 4. Januar 2012. Demnächst folgen eine Überarbeitung (!) dieses Teils und dann Überlegungen dazu, daß das Wort “Nichts” ein sprachliches Problem ist: welche Bedeutung hat “Nichts”? Das Problem ist allerdings eines, das gar nicht so ungewöhnlich ist in der Sprache (Teil 2). Darüber hinaus ist “Nichts” dann ein persönliches Problem, weil es als bloßes und ungebundenes Wort nur jedem Einzelnen (Teil 3) zugänglich, also nicht diskursiv ist. Daß der Einzelne mehr ist als der Singuläre wurde hier schon angesprochen. Und dieses Besondere zeigt sich: Menschen haben nicht nur das eigenartige Wort “Nichts” entstehen lassen, mit der Erschaffung des “Schönen” gehen sie über die Bedingungen der Seiendheit hinaus und zeigen einen ganz eigenen Bereich.
Unterstützung fand ich in den Werken von Immanuel Kant, Gottlieb Fichte, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger, außerdem in den Arbeiten von Ulrich Beuttler, Gott und Raum (2010), Norbert Hörster, Die Frage nach Gott (3.Aufl., 2010), Hartwig Schmidt, Nichts und Zeit (2007) und etlichen Artikeln im Historischen Wörterbuch der Philosophie, besonders aber in “Nichts, Nichtseiendes” von Theo Kobusch.
Professor Dr. Ulrich Knoop
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