Grün: ein grüner Baum, der golden ist (Faust v. 2039) ?

 

 

 

“Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, /

 

Und grün des Lebens goldner Baum.”

 

läßt Goethe  Mephisto zum Schüler sagen (Faust v.2038 u. 2039). Ein goldener Baum kann aber nicht grün sein. Und so wurde das im 19. Jahrhundert  zum Topos von “hier irrt Goethe”. Viele Faust-Erklärer finden hier den großen Irrtum Goethes und verbreiten das so sehr, dass ab dann dieses Zitat als Farbenwiderspruch  immer wieder angeführt wird.

Fast schon "klassisch" läßt Peter Rosegger auf den Satz „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum“ ein junges Mädchen so antworten: „A la bonheur! Seit wann ist denn Gold grün? Meines Erkennens ist es gelb. Und ferner: hat man schon einmal einen goldenen Baum gesehen? Zugegeben aber, der Baum wäre golden, wie kann er dann grünen? Nun, der große Wolfgang hat's gesagt und die Welt glaubt's.“  (P.R., Die beiden Hänse. Ein Roman aus unserer Zeit. 28. bis 31. Tausend,  Leipzig 1911, S. 180 - 181).

Man schreibt aber auch ganz direkt, dass man diesen Vers für "Unsinn" hält (Arkan Schmitt, Der Knote: unmodernes Überwitzblatt, 1902, S. 109).  Und so reicht diese Auffassung bis zum "Sprachstillehrer" Wolf Schneider, der diesen Goethe-Vers als Beispiel für ein "schiefes Bild" nimmt: es geht ihm um "die Wahl der unerträglichen Farben", die er hier vorliegen sieht (W.S., Gewönne doch der Konjunktiv, 2010, Abschnitt 2 "Auch Eisberge kochen nur mit Wasser").

 

Ansonsten sind die Verse sehr beliebt, wenn es darum geht zu begründen, dass man nun die "Theorie" beiseite lassen möchte.

 

Eigenartigerweise nehmen die neueren Faust-Kommentare dazu nur verhalten Stellung. Albrecht Schöne verweist auf den "Paradies-Bericht 1. Mose 2,9" (I, 273), Hans Arens darauf, dass Grün eine Farbe ist (I, 209) und Ulrich Gaier auf die "Unvereinbarkeit der Farbangaben für den Baum" (Kommentar I, 272). Arens und Gaier machen allerdings auf einen Aufsatz von Gottfried Keller (1855) aufmerksam, der diese Art von Stellungnahme nur einmal wählt und dort genau auf den Vers von Goethe eingeht. Keller verweist auf eine andere Bedeutung, wenn er sagt, dass hier vom "Grün der Vergetation als dem Symbol des Wachsens, Werdens, Seins" die Rede sei (Gottfried Keller, Aufsätze zur Literatur. Herausgegeben und kommentiert von Klaus Jeziorkowski, 1971, S.74). Keller lenkt also die Aufmerksamkeit weg von der "Farben-Katachrese" (Jeziorkowski im Kommentar, S. 104) hin zu einem anderen Bedeutungsaspekt, der Vegetation. Das Engagement Kellers ist eigentlich nicht verwunderlich, wenn man an den Namen seiner Roman-Figur denkt: Der grüne Heinrich. "Grün" scheint eine zweite Bedeutung zu haben, die weniger mit der Farbangabe zu tun hat. Und so ist es doch sehr verwunderlich, dass die gesamte Goethe-Philologie, (nach 1935) nie dort nachgesehen hat, wo man am ehesten etwas über alle Bedeutungen eines Wortes erfahren kann, nämlich im IV. Band , 1. Abteilung, 6.Teil, oder kürzer gesagt: Bd. 9 der dtv-Ausgabe des Deutschen Wörterbuchs. Dort wird die Bedeutung B angeführt, die die Bedeutung des Treibenden, des Frischen vor der Farbvorstellung anführt und als Beleg, neben anderen, diese Fauststelle nennt (dtv-Bd. 9, 643). Zu ergänzen wäre hier “grüner Aal” als frischer, gerade gefangener Fisch, der ja eine eher bräunliche Farbe hat. Mephisto spricht also davon, dass dieser Baum (möglicherweise der der Hesperiden, weshalb er golden ist; vielleicht auch der Baum der Erkenntnis aus der Genesis), nicht so sehr farblich grün ist, sondern mit "und grün" gemeint ist: lebendig wachsend, sprießend.

 

Die Beleglage zeigt, dass diese Bedeutung damals gängig war (Adelung, Wörterbuch Bd. 2, 825: ein grüner Baum im Gegensatz zu einem verdorrten, ansonsten 'frisch' mit Verweis auf 'grüner Aal'), also auch für Goethe, was dann im Bd. IV des Goethe-Wörterbuchs, 2004 (Geschäft - inhaftieren) unter “grün” den Erläuterungen des DWB gemäß gedeutet wird (Sp. 511).

 

Goethe ging es in diesem Vers also nicht um die Farben grün und golden, sondern um die sprießende Lebendigkeit (grün) dieses besonderen (goldenen)  Baumes.