Ulrich Knoop

 

Der folgende Beitrag wurde veröffentlicht in : Handbuch Sprache in der Literatur. Herausgegebem von Anne Betten, Ulla Fix und Barbell Wanning, Berlin - New York 2017, 140 - 159 (= Handbücher Sprachwissen. Herausgegeben von Ekkehard Felder und Andreas Gardt, Bd. 17).

 

 

Das Wort im literarischen Text.

 

 

 

Die Bestimmung von Wort ist bekanntlich schwierig, weshalb die sprachwissenschaftlichen Darstellungen i.d.R. auf die Wortform abstellen. Und auch dort, wo sie das nicht tun, geht man immer noch einen prozeduralen Adäquatheitsbegriff aus, der einen top-down-Prozess von einer festen lexikalischen zu einer situativen oder aktuellen Bedeutung steuert (Schwarz 1992, 28): auch die kognitive Semantik benötigt die abschließende Konzeptualisierung der Wortbedeutung (ebd., 80). Das literarische Wort hingegen wird in der völligen Offenheit der Bedeutung verwendet, was wiederum die Ursache für die Bestimmungsschwierigkeit ist. Das ‚offene‘ Wort widerstrebt der Bedeutungseingrenzung auf den Begriff, die im Satz ihre Fortsetzung hat. Durch das literarische, ‚offene‘ Wort wird das Spektrum des ‚Standards‘ immer wieder in seine gesamtsprachlichen Möglichkeiten hinein erweitert, deren Erfassung Grammatik und Wörterbuch nur in Ansätzen leisten können. Zusammen mit den historischen Wortbeständen (Differenzwortschatz) zeigt das literarische Wort den Kosmos sprachlicher Möglichkeiten und stellt hohe Anforderungen an das standardsprachlich orientierte Verstehen. Das literarische Wort kann in glückenden Fällen die gewohnte sprachliche ‚Abbildung‘ (Bedeutung) aufheben und mit seiner Performanz dem Vergänglichen des Realen die Dauer der wörtlichen Erscheinung (Sein) geben. Anzeichen hierfür sind die wesentlich vielfältigeren Wort-Verbindungsmöglichkeiten in literarischer Prosa und Lyrik, die ganz andere Formen bereit halten als die standardsprachliche Syntax.

 

 

 

1 Die schwierige Bestimmbarkeit von Wort

 

2 Die ‚Offenheit‘ der Wortbedeutung

 

3 Die Standardsprache als Eingrenzung einer weiter angelegten

 

Gemeinsprachlichkeit

 

4 Das literarische Wort und der Satz

 

5 Die Funktionsintensität des Titel-Wortes

 

6 Das literarische Wort als ‚offenes‘ Wort

 

7 Verständlichkeit

 

8 Der Differenzwortschatz und die Markierung poet.

 

9 Performanz

 

10 Die vielfältigen Verbindungsmöglichkeiten des literarischen Wortes

 

11 Literatur

 

 

 

Wort Bedeutung Wortzeichen Signifikat Signifikant Satz Verstehen Offenheit der Bedeutung Differenzwortschatz Performanz

 

 

 

1Die schwierige Bestimmbarkeit von Wort

 

Eine Bestimmung von Wort fällt gar nicht so leicht. Ziehen wir linguistische Erläuterungen zurate, dann fällt die Antwort zwar eindeutig aus: Ein Wort ist eine Buchstabensequenz zwischen zwei Leerzeichen (so z.B. Metzler Lexikon Sprache 2010, 768). Aber wir stutzen, bis dann ersichtlich wird, dass dieser Erklärung eine besondere Form der Sprache zugrunde liegt (die Schriftlichkeit) und dass zudem eine besondere Funktion des Wortes gemeint ist, nämlich verbunden werden zu können im syntaktischen Zusammenhang der Grammatik. Genau dies machen grammatische Darstellungen, wie die von Peter Eisenberg (2013, Überschrift des 1.Teils: „Das Wort”), zu ihrer Aufgabe. Hier werden die Möglichkeiten dargestellt, wie die Wörter untereinander verbunden werden können. Es geht also gar nicht um das Wort, sondern um die Formen, die Wörter annehmen (müssen), wenn sie syntaktisch untereinander verbunden werden. Wir erfahren hier, wie beispielsweise das Wort „Wald” seine Grundform ändert, wenn es in anderen Zusammenhängen und mit anderen Wörtern zum Satz verbunden werden soll, nämlich zu „Wälder”, „Waldes” etc.

 

Wollen wir aber statt dieser Formendarstellung wissen, was „Wald” bedeutet, dann verweist uns der Grammatiker auf das Lexikon, das als der (mentale) Bereich gilt, der die Bedeutung eines Wortes speichert. Darauf basiert die Theorie der kognitiven Semantik (Schwarz 1992, 2 u. 28), die allerdings den „Speicherinhalt“ individualisiert, das aber nur als Postulat. Also bleibt für eine Nachfrage nur das herkömmliche Wörterbuch. Im Wörterbuchartikel wiederum erfahren wir, dass die Bedeutung von Wald ‚große Fläche mit dichtem Baumbestand‘ sei (Wahrig 2011, 1625; Duden-online ähnlich). Das allerdings hat nur entfernt mit dem zu tun, was wir bei einem Spaziergang durch den Wald als seine Wortbedeutung wahrnehmen, oder mit dem sprachlichen Ausdruck von Matthias Claudius: „Der Wald steht schwarz und schweiget” (Abendlied) verbinden. In der Linguistik ist diese Schwierigkeit bekannt: „Bis heute entzieht sich das Wort einer exakten sprachwissenschaftlichen Definition. Das bedeutet, dass das Wort für die Linguistik nicht als feste Größe fassbar wird.” (Sobotta 2002, 84). Instruktiv für das, was Wort überhaupt in einer Sprache sein kann, ist immer noch der Abschnitt: „Bezeichnungsmittel der Worteinheit. Pause” im Kawi-Werk von Wilhelm v. Humboldt ([1830-1835]. 505ff.).

 

Aber auch mit dem, was die Bedeutung eines Wortes sein könnte, also dem, was Wald uns sagt, tut sich die Linguistik schwer, vor allem dann, wenn man die Vorgaben betrachtet, die die Linguistik für ihre Bedeutungslehre von einer Richtung der Philosophie übernommen hat. Prominent für diesen „logischen Positivismus” (vgl. Sukale 1988, 22ff.) ist das Beispiel, das Gottlieb Frege wählt, um für mehr Eindeutigkeit beim Ausdruck zu werben: der Planet Venus wird einmal als Abend-, ein andermal als Morgenstern bezeichnet. Zwei Wörter für ein und denselben Gegenstand sind für Frege ein Unding. Dabei besitzt er in Göttingen sicherlich einen Garten mit Haus darin, muss dafür aber Grundsteuer – das Wort kommt im 18. Jahrhundert auf – bezahlen. Sein Garten wird hier also anders bezeichnet. Die Zwei- oder Mehrfachbezeichnung kommt häufiger vor und ist wohl eine genuine Erscheinung der Sprache.

 

Erkennbar wird daran zweierlei: die sprachliche Organisation der Wortbedeutung geht ‘krumme‘ Wege und die Wissenschaft bemüht sich darum, einen festen Bezugspunkt für die Bedeutung außerhalb der Wörter zu finden. Den findet sie in dem Korrelat von Wort und Sache, nämlich in der Dinglichkeit der realen Welt. Ein Wort „referiert” demnach auf reale Gegenstände in der Welt, „Hund” beispielsweise auf das Tier mit vier Beinen (Löbner 2003, 24). Es ist dann nicht mehr überraschend, dass diese Semantik ganz im Bereich dinglicher Gegenstände und ihrer Bezeichnungen bleibt, also eine Bedeutungslehre nur für einen Teilbereich des Wortschatzes ist. Sicherlich ist hierfür die Inhaltskonzeption des Wortes durch de Saussure prägend, der mit seiner kurzen Klarstellung von Signifikant und Signifikat zugleich auch die ganze Schwierigkeit dieser Konzeption zu erkennen gibt: das Wortzeichen „Baum” (Signifikant) referiere auf die als Bild wiedergegebene Pflanze (Signifikat), nämlich einen belaubten Baum (so noch Schlobinski 2003, 32). Aber weder lässt sich die ganze ‚Realität‘ eines Baumes so abbilden – denn was ist mit diesem ‚Baum‘ im Winter, also ohne Blätter ? –, noch meint das Sprachzeichen (Signifikant) „Baum” nur und ausschließlich solch einen gewachsenen Baum. Sogar in einem nur einbändigen Wörterbuch finden sich immerhin sechs Bedeutungen für dieses Sprachzeichen (Wahrig 2011, 232).

 

Trotzdem scheint das, was ‚real‘ ist, klar und einfach als ‚Gegenstand‘ vor uns zu liegen. Diese Auffassung finden wir in der Nachfolge Freges, vor allem in der (sprach-)analytischen Philosophie des Wiener Kreises (Rudolf Carnap, Moritz Schlick, Alfred J. Ayer u.a.). Bedeutung wird dort so verstanden, dass der ‚Gegenstand‘ die Bedeutung bestimme und der Gegenstand fraglos ‚vorliege‘. Von daher erklärt sich die Vorliebe der analytischen Philosophie für die Namen. Bei diesen sei die Bedeutung deshalb klar, weil wir ihren ‚Gegenstand‘ kennen (Sukale 1988, 22). Dazu Hans-Martin Gauger (1976, 126) – mit der einfachen Klarheit seiner Strukturalismus-Kritik –: „die Wörter bedeuten die Dinge mittels der – bewußtseinsmäßig mit ihnen verbundenen – Inhalte”. Es geht hier also um die Möglichkeiten unserer Erkenntnis und ihrer Darstellung. Dieses Problem hat Kant bekanntlich umgetrieben und er kommt zu dem Ergebnis, dass jedes (menschliche) Erkennen unter den Vorbehalt zu stellen ist, es handle sich dabei immer nur um das Bild, das sich unser Denken von der Realität macht, nämlich als einem „Postulat der Möglichkeit der Dinge” (KrV A, 220). Die Realität selbst, der ‚Gegenstand‘, liege uns nicht vor. Damit wird der Gegenstandsbezug eines Wortes fraglich. Das Wort ruft einen Gegenstand lediglich als Möglichkeit auf. Seine ‚Ungenauigkeit‘, ‚Sprunghaftigkeit‘ oder ‚Un-Systematik‘ sind dann zwar sprachlich organisiert, jedoch im Kantischen Sinne erkenntnisentsprechend. Eine Begriffssprache, wie sie der Wiener Kreis forderte, wäre demnach nicht nur überflüssig sondern auch erkenntnismindernd. Der Begriff ist ein eingegrenztes Wort, nämlich mit der Schließung seiner Offenheit eingegrenzt auf eine präzisierte Aussage, die ihren Wert aus dem erlernten Einverständnis der Begriffsgebraucher (Fachleute) erhält (Burkhardt 1983). Zum Beispiel so wie Juristen lernen, dass Besitz die (momentane) Verfügung über eine Sache ist, allgemeinsprachlich aber jemand einen (verstreuten) Besitz haben kann.

 

 

 

2Die Offenheit der Wortbedeutung

 

Daraus ergibt sich eine Folgerung für die Wortbedeutung: sie wird offener. Das Wort referiert zwar auf etwas, das jedoch zu allererst etwas ‚Allgemeineres‘ im Umkreis des vom Wort Angesprochenen ist, z.B. Fuß als die unterste Gliedmaße des Menschen überhaupt, also nicht etwa ‚konkret gegenständlich‘ diesen Fuß dieses bekannten Menschen. Das resultiert aus der Offenheit des Wortzeichens, die über die Bedeutung ‚Fuß überhaupt‘ das ‚Fußmäßige‘ mit benennen kann. Der Bezug auf einen (konkreten) Fuß ist möglich, aber das Vorstellen des Fußes als einer ‚Grundlage‘ als Fuß des Berges ebenso. Entscheidend hierfür ist die Verständlichkeit für andere (Hörer). Referenz soll also nicht gegenstandsgebunden angenommen werden. Ein Wort kann einen Gegenstand bezeichnen, auch einen ganz konkreten, aber damit ist seine Bedeutungsleistung nicht erschöpft, denn es bleibt immer noch der weite Bereich des Assoziierens, nämlich die Entwicklung und Ausfaltung von Bedeutungen. Nur ein Beispiel: Töne, eigentlich nur hörbar, können auch scheinen, also einen anderen Aggregatzustand annehmen, nämlich in Richtung ‚Sichtbares‘, ohne dass das Verstehen gestört wird: „blickt zu mir der Töne Licht.” (Clemens Brentano, Abendständchen).

 

Die mühevolle „Kategorialarbeiten”, die Löbner leisten muß, um „Donald” „semantisch korrekt” als „Ente” bezeichnen zu können, können entfallen, ebenso wie die ganzen „Einhorn”-Debatten über Bezeichnungen für etwas, das „es nicht gibt” (2003, 257ff.). Selbstverständlich bezeichnet „Donald” in diesem Fall eine Ente, genauso wie „Ente” die falsche Zeitungsnachricht oder den Kleinwagen 2CV von Citroen benennt. Systematisierend kann man das dann in das bilaterale Zeichenmodell von de Saussure einzeichnen: die Trennlinie zwischen Signifikant und Signifikat behält weiter ihren Sinn, aber das umschließende Oval, das nur den belaubten Baum zulässt, wird gesprengt. Ein Signifikant kann die verschiedensten Dinge bezeichnen, also auch begrifflich unsystematische. Um was es geht, lässt sich geradewegs an dem Erkenntnisprozess von Ludwig Wittgenstein ablesen. Von der Forderung des Wiener Kreises nach definitorischer Eindeutigkeit setzt er sich mit den „Philosophischen Untersuchungen” ab: „Ist das unscharfe (Photo) nicht oft gerade das, was wir brauchen ?” (1993, § 71).

 

Das verweist darauf, dass Wörter gerade nicht als Feststellungen, Definitionen oder Abgeschlossenes angesehen werden können. Wörter haben prozessuale Momente, die sie erst im Diskurs offenbaren bzw. offenbaren sollen. Insofern ist das Wort nie ‚recht‘ oder passend und Wörterbucheinträge können deshalb nie das ganze Bedeutungsspektrum eines Wortes wiedergeben. Ein Wörterbuch von 1400 könnte nicht anzeigen, dass Grund‚ (ganz real) Ackerland, Stück Erde’ in der gleichzeitigen mystischen Reflexion zu einem Äquivalent von lat. causa wird, heute erweitert in die ganze Wortfamilie ‚Begründung‘. Das Entwicklungspotential von Wortbedeutungen muß offengehalten werden. Wie ‚offen‘ ein Wort sein kann, wie viel ‚Sinn‘ es trägt und wie viel Erläuterung sein Bedeutungsumfang erfordert, dafür sei hier das Beispiel eines vermeintlich unbedeutenden Wortes genannt: und. Wahrig (2011) erläutert und auf einer halben Drittelsspalte, das Deutsche Wörterbuch (DWB 1999 s.v.) auf 24 Spalten, Bruno Liebrucks (1979) aber auf 847 Seiten, und das fast nur für die Sprache Hölderlins.

 

Wie steht es nun mit der Offenheit der Wortbedeutungen? Gerade in der Literatursprache ergibt sich eine Diskrepanz zwischen dem Bemühen des Autors, möglichst genau zu formulieren, und dem Ergebnis dieser Bemühung, dass die Leser gerade deshalb lange darüber nachdenken können. Weil sich darüber kein endgültiges Ergebnis einstellen will, kann man literarische Texte als fiktiv, nämlich nur ausgedacht ansehen: „lies keine oden, mein sohn, studier die fahrpläne” (Hans Magnus Enzenberger, ins lesebuch für die oberstufe, 1957). Sie mögen unterhaltsam und anregend sein, aber sie haben keine Referenz zur Realität. Eine solche wird für Sachbücher, Ratgeber, Zeitungsberichte und sogar Tatsachenberichte angenommen, was viele Bemühungen hervorgerufen hat, dieses eine ‚wahr‘ mit einem anderen ‚wahr‘, nämlich dem der Literatur und Kunst überhaupt, zu ergänzen (Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, 1970; bzw. Wolfgang Iser mit seiner „Zweiweltenvorstellung”, nämlich einer „sozio-politischen” und einer „artifiziellen”, 1993, 386). Mit diesem Bezug auf das eine ‚wahr‘, nämlich das der ‚Realität‘, ist freilich nur eine spezielle Meinung erfasst. Diese wunderbare Welt der Realität – wo ist sie? Sie ist lediglich eine „Konstruktion”, legt Niklas Luhmann dar und verweist den Wunsch nach einer konstruktionsfrei erkennbaren Realität auf die überholte Vorstellung einer Anordnung der Arten und Gattungen („den alten Essenzenkosmos“, 2009, 14ff.).

 

Es stimmt schon: Kein literarisches Wort verweist auf etwas ‚anderes‘. Mit dem Verweisen würde es sich nämlich abschließen und wäre dann überschaubar. Und genau darum geht es ihm nicht. Es ruht aber auch nicht in sich selbst. Es ist in Bewegung. Einmal, mit seinem Initial, in Bewegung gebracht, fordert es die jeweilige Rezeption. Damit ist es nicht ‚Abbild‘ sondern Perspektive, die jede Synchronie seiner Entstehung verlässt und in andere ‚Zeitumstände‘ oder neue Realitäten eintauchen kann, selbst wenn die Entstehung des Wortes lange Zeit zurückliegt, manchmal tausende von Jahren wie z.B. bei den Fragmenten der Sappho. „Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein”(Paul Celan 1973, 23). Gewonnen wird diese Wirklichkeit mit der Offenheit der Wörter, die uns selbst in Erstaunen versetzen können: was habe ich da gerade gesagt? Mit dieser Frage hat man sich aus den bindenden Kommunikationszusammenhängen gelöst. Eine solche Bindung besteht beispielsweise für „füllen” um 1800 darin, dass damit die Tätigkeit des Auffüllens von Hohlräumen benannt wird (Adelung 1793ff., Bd. 2, 348ff.), welches Bedeutungsverständnis bis heute andauert. Wenn wir nun hören: „Füllest wieder Busch und Tal”, dann suchen wir – mehr als zweihundert Jahre nach Entstehen des Gedichts (Goethe, An den Mond, 1777) – nach der Wirklichkeit dieser Erscheinung und merken an diesem Wort, dass weitere seiner Möglichkeiten offengelegt worden sind. Sie verweisen auf die kosmische Belebung eines Tals, die uns rätselhaft bleibt, aber eben auch eine Perspektive verheißt, die es uns verbietet, dieses Wort in seine normalsprachliche Bedeutung zurückfallen zu lassen. Eine solche Bewegung kann ein Wort auslösen: wir stutzen, ahnen und schließen mit dem Wort gerade nicht ab, sondern geben uns seinen nun aufgewiesenen Möglichkeiten hin. Das ist der Gewinn an Wirklichkeit, von dem Paul Celan spricht.

 

 

 

3Die Standardsprache als Eingrenzung einer weiter angelegten Gemeinsprachlichkeit

 

Aber spielt sich das nicht in Bereichen ab, die nichts mit unserem normalen Leben zu tun haben? Ist das literarische Wort nicht eine Ausnahme gegenüber unserem alltäglichen Sprechen und Schreiben? Das literarische Wort ist oft ungewöhnlich und das in vielen Hinsichten: seiner Bedeutung, des ungekannten Gebrauchs, seiner Seltenheit und seiner Verständlichkeit. „Schwarze Milch der Frühe” (Paul Celan, Todesfuge) - was für eine „Milch” soll das sein? Vor allem: von welcher Grammatik könnte dieser Satz erklärt werden und in welchem Wörterbuch könnte man diese Bedeutungen erklärt bekommen? Zumindest in keinem der gängigen Werke. Deshalb wird ein solcher Sprachgebrauch als un-gewöhnlich angesehen und dann auf den üblichen Sprachgebrauch verwiesen, der eben als ‚gewöhnlicher‘, vor allem aber als ‚normaler‘ angesetzt wird. Grundlegend hierfür ist der Gedanke einer Sprech- und Schreibweise, die von allen verstanden werden kann. Mit dieser für alle verständlichen Sprache geht der Anspruch einher, damit eine Sprache darzustellen, die allgemein gültig ist. Man nennt sie deshalb Standard und unterstellt, dass sie eine umfassende, alle Ausdrucksnotwendigkeiten der Darstellung ermöglichende Sprache sei, kurzweg: die Sprache.

 

Inspirierend für diese Auffassung war die Ordinary Language Philosophy, der zufolge diese normale bzw. ‚gewöhnliche‘ Sprache ganz gut geeignet sei, reflektorische Vorgänge angemessen darzustellen. Dadurch könnten viele traditionelle philosophische Probleme aufgelöst werden. Mit der Übernahme dieser Überlegungen in den linguistischen Strukturalismus kam es dann auch dazu, dass die poetische Sprache wegen ihrer ‚Ungewöhnlichkeit‘ als ‚defizitär‘ angesehen wurde (prominent hierfür Bierwisch 1965, 55; diese Annahme findet sich immer wieder, z.B. bei Thomaschewski 1985, 271: „Der Vers ist wesentlich deformierte Rede”.). Ein einfacher Blick darauf, welche Sprachvarianten wir sprechen oder hören (Dialekte, Fachsprachen, Familiensprachen, Szenejargons etc.), zeigt allerdings, dass es viel mehr ‚Sprachen‘ in einer Sprachgemeinschaft gibt, weshalb die Frage aufkommt, was Norm oder Standard eigentlich meinen bzw. wie sie geformt werden. Sie entstehen über Variantenabbau und Prägung von Vorbildern bzw. Regelungen (z.B. das Orthographie-Regelwerk), also durch Ausschluß und Abschließung, so dass die Standardsprache nur eine Teilmenge der gesamten Sprachlichkeit einer Sprachgemeinschaft ist (vgl. Berruto 2004, 191). Sie ist geformt und bestimmt unter dem Optimierungsziel „Verständlichkeits- und Darstellungsaffinität“ und prägt das „Einverständnis (vermittelt über Schulunterricht, anders gesagt: über Bildung) mit den Kategorien falsch und richtig. Man meint, diese Standardsprache bilde die gesamte Sprache ab, und bezieht sich dabei auf das Werk, das nur über eine Einschränkung einer weitgefassten Gemeinsprachlichkeit entstanden ist, die Grammatik.

 

Wie schwierig diese ‚Standardisierung‘ aber ist, zeigt ein einfacher Fall. Welche Möglichkeiten hat der Genitiv? Helbig/Buscha (1996, 591 ff.) benennen zwölf, Eisenberg (2013, 244) geht von sechs Typen aus. Eisenberg ist freilich zu Recht skeptisch: „Man weiß nicht einmal genau wie vollständig (…) die Liste von Attributtypen ist”. Um was es gehen könnte, zeigt das Gedicht von Oskar Pastior das denken des zufalls (aus dem Gedichtband Das Hören des Genitivs, 1997) und die Erläuterungen von Robert Stockhammer (2014, 480 ff.): weder erfassen die Grammatiken alle Sätze einer Sprache – auch Chomskys ‚erfundener‘ Satz „Colo[u]rless green ideas...” gehört zur (in dem Fall: englischen) Grammatik, zumindest ist er „sinnvoll” (Stockhammer 2014, 496) –, noch erfassen Wörterbücher alle Wörter und alle Wortbedeutungen einer Sprache. Für letztere ein einfacher Zahlenvergleich: der zehnbändige Duden hat etwa 90.000 Worteinträge, das Deutsche Wörterbuch etwa 350.000. Das Deutsche hat aber weit mehr Wörter als diese gebuchte Anzahl und deren erklärte Bedeutungen. Das literarische Wort nun lebt davon, dass diese Bedeutungsräume geöffnet werden können. Ein Beispiel: ich wird standardsprachlich als Funktionswort erklärt, nämlich als 1. Person Singular, und bedeutet: „der Sprecher selbst” (Wahrig s.v.). Das allerdings ist derjenige gewiss nicht, von dem sagt wird: „o Absolut, das meine Stirne deckt, um das ich ringe” (Gottfried Benn, Trunkene Flut [1922-1936], 1986, 56). Der Autor ist es nicht, der Leser oder Vortragende aber auch nicht. Wer ist dann ich und welche Bedeutung hat ich? Die Literaturwissenschaft spricht von einem lyrischen Ich, die Sprachwissenschaft von großen Schwierigkeiten, weil nämlich dieses Ich-Sagen nicht die sprachwissenschaftlich angenommene Selbstverständlichkeit hat (Stockhammer 2014, 479 ff.). Die Standardisierung hat jenseits ihrer selbst nicht nur ‚marginalisierte Reste‘ übrig gelassen, wie öfters vermerkt wird, vielmehr kann aus ihrer Begrenztheit heraus gar nicht gesagt werden, was es noch gibt (Linke/Feilke 2009, 3). Wichtig wird also die Unterscheidung, dass ‚(standard)ungrammatisch‘ nicht gleich ‚sprachlich unmöglich‘ ist. Was die normsprachliche Restriktion ihrerseits sprachlich auslösen kann, geht aus einer Bewegung hervor, die um 1900 das Ungenügen dieser Normsprache zum Ausdruck bringt – Ein Brief (1902), auch bekannt unter Lord Chandos, H. v. Hofmannsthal (1991, 45–55) – und damit einen Aufruhr einleitet, der sämtliche normsprachliche Vorschriften (Knoop 1991) sprengt, den Expressionismus: „Denn es kann im Menschen etwas aufsteigen, dessen Grund kein Verstand (…) aufzufinden vermag” (Humboldt, [1827-1829], 229).

 

 

 

4Das literarische Wort und der Satz

 

Literarische Wörter und ihre Bedeutungen steigen also auf und bereichern unser Sprechen und Schreiben. Sie gehören zu unserer Sprache, auch wenn sie uns überraschen. Aber was sind sie eigentlich? Sind sie nur Teile von Sätzen? Oder sind sie eigenständig, zunächst, und dann erst in Sätzen ‚verknüpft‘, was der Begriff Syn-tax eigentlich anzeigt?

 

Eine Antwort aus der Literatur klingt so:

 

Ein Wort

 

Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffren steigen

 erkanntes Leben, jäher Sinn,

 die Sonne steht, die Sphären schweigen,

 und alles ballt sich zu ihm hin.

 

Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,

 ein Flammenwurf, ein Sternenstrich –

 und wieder Dunkel, ungeheuer,

 im leeren Raum um Welt und Ich.

 

(Gottfried Benn [1937–1947], 1986, 196)

 

 

 

Ein Wort erleuchtet also unser Dasein und für uns stellt sich die Frage, wie das literarische Wort das leisten kann. Zunächst wird hier wieder die Schwierigkeit sichtbar, die uns der Strukturalismus und dessen Verzweigungen mit auf den Weg gegeben haben. Unter Bedeutung werden nur Sätze behandelt, nicht aber die Bedeutungen von Wörtern. In dem Reader von Ludger Hoffmann (2010) erscheint Wort gar nicht, sondern nur Wortform und Wortstruktur. Im Kapitel Bedeutung werden in den Beiträgen von Lyons bis Tugendhat Wörter fast ausschließlich als (Sprach-?) Phänomene verhandelt, die erst dann Bedeutung haben, wenn sie zu Sätzen verbunden werden. Wörter, allein stehend, haben keine Bedeutung, mehr noch: sie können gar nicht allein stehen. Für Boris Thomaschewski ist das ganz klar: „Außerhalb eines Satzes gibt es keine Wörter, – einzelne Wörter gibt es nur im Wörterbuch.” (1985, 27). Harald Weinrich nennt das Aussagen aus der „Ära der Satzlinguistik” (2006, 101).

 

Nehmen wir das Satzmäßige von „Ihr Worte, auf, mir nach!” aus dem Gedichtanfang Ihr Worte von Ingeborg Bachmann ([1961]1978, 162f.) weg, müsste doch „Ihr Worte“ nichtssagend sein, ohne Bedeutung. So ist es aber nicht, vielmehr wird „Ihr Worte“ vielseitiger, es ist nun eine Ansprache an „Worte“, für die die Aussage über ihre Bewegung („auf, mir nach!”) einschränkend ist. Sie können nun viel sein, nicht nur im Aufbruch, sie können sogar ganz allgemein zum Angesprochenen werden für andere Zusammenhänge, für Aussagen überhaupt. Aber auch wenn die Ansprache „Ihr” wegfällt, ist „Worte” weiterhin bedeutsam: man kann zu jemandem „Worte” sagen und er kann sich denken, was der Sprecher damit meint. Daraus wird wiederum deutlich, dass das Attribut mit seiner Verdeutlichung vereindeutigend einschränkt: nur das so Angesprochene gilt und nicht das, was ein Wort sonst noch bedeuten kann. Die Aussage im Satz präzisiert, aber beschränkt eben auch.

 

Umgekehrt führt die Destruktion des Satzes nicht zu bedeutungslosen Sprachteilen. Substantive, Adjektive oder Verben sind bedeutungsvolle Sprachteile, die für sich stehen können, Funktionswörter eher nicht (vgl. aber das „da” in Heideggers Existenz-Analyse oder das „Als ob” in Vaihingers Philosophie; dort sind sie bedeutungsvolle Sprachteile).

 

Ist das Einzelwort wirklich so angelegt, dass es ein „Flammenwurf” sein kann, also eine Erhellung, ein Sichtbarmachen von etwas? Benns Gedicht selbst zeigt das in der Reihung der Einzelwörter „Glanz”, „Flug”, „Feuer“, „Flammenwurf”, „Sternenstrich”, die nicht syn-taktisch verbunden sind und trotzdem ‚aussagen‘ können: wir können uns denken, was gemeint ist. Dass wir das können, ist gar nicht so fern liegend. In unserem gewohnten Umfeld zeigen uns Aufrufe (Achtung), Hinweise (Einbahn) u.Ä. die Aussagemöglichkeiten von Einzelwörtern. Im Umgang mit Texten erfahren wir seit langem ihre Ordnungsfunktion und Aussagekraft: in älteren Texten die Glossen – ein einzelnes Merkwort, über den Text geschrieben – und in den gedruckten Texten, den Büchern, der sinnaufschließende Wort-Index, wo Einzelwörter komplexe Sachverhalte anzeigen und mit der Seitenzahl auf deren textliche Erläuterung verweisen. Und es zeigt sich, dass das Einzelwort als genuine sprachliche Erscheinung Geltung hat: (das ist) Revolution, Umsturz, (ein) Roman, (die) Kirche, (das) Gedicht, (das) Drama, (oh, diese) Schulden oder (ja, die) Liebe.

 

Das rechte Wort ist nie recht, sonst wäre es die Bezeichnung für einen schon gegebenen Sachverhalt. Die Überschrift Gedicht ist eine Hoffnung. Das Wort nennt eine mögliche Wahrheit, bevor es als begreifbares Wort erfasst werden kann: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner blickt es zurück” (Karl Kraus, Die Fackel XIII, Nr. 336, 1911; vgl. auch di Cesare 2011, 166ff.).Wichtig hierfür ist seine Unbestimmtheit, die den Menschen in die Lage versetzt, mögliche Bedeutungen nach seiner Art zu modifizieren und so in seiner Sprache zu bilden (Borsche 1990, 155). So verfuhr G. Benn in seiner Zusammenstellung der Einzelwörter, und sie wird von vielen verstanden und nachvollzogen. Es gibt also eine Individualität des Wortes und dieses hat eine Bedeutung, die zunächst weder durch den Begriff, den das Wort in einer Restriktion erst bildet, noch durch den Gegenstand, dem der Begriff entspricht, bestimmt wird. Deshalb hat das Wort ein der Reflexion vorausliegendes Dasein und ist „das wahre Individuum in der Sprache” (Humboldt [1824–1826], 1968, 410). So sieht es auch Ernst Cassirer, der an Sokrates’ Denken eben beobachtet, dass für ihn im Wort die Bestimmtheit und Eindeutigkeit nicht gegeben ist, wohl aber als latente Forderung in ihm liegt (1923, 61). Diese Eindeutigkeit und Bestimmtheit erhält das Wort im Satz, womit das „rein beziehentliche Denken” die Grundlagen erhält, die es als synthetisches Urteils- oder Satzdenken mit der Verknüpfung von Begriff und Gegenstand so erfolgreich gemacht haben. Damit ist aber auch die weitgreifende Differenz erkennbar, die zunächst von Heidegger, dann von Derrida und Lacan, herausgearbeitet wurde: gerade die Verknüpfung im „Urteils-Satz” („das ist ...”) verdeckt diese Differenz von Sein und Gegenständlichkeit, welches Sein das Gegenstandssein überhaupt erst ermöglicht und nicht schon ist. Das Wort ist deshalb für Heidegger vor der sprachlichen Satzaussage gültig, also vor der Einfügung in einen Argumentationszusammenhang: „Das Wort – Wort wesentlich reicher als die Sprache. Sprache ein Abfall und eine Veräußerung des Wortes an das Vorhandene” (1999, 56). Für Heidegger existiert das Wort vor dem Gegenstand, ist also nicht seine ‚Abbildung‘.

 

 

 

5Die Funktionsintensität des Titel-Wortes

 

Wie soll man uns, die wir damit leben, Wort und Gegenstand im Satz zu verknüpfen, erklären, was das Wort dann sein kann, wenn es nicht im Satz mit anderen Wörtern zur Aussage verbunden wird? Damir Barbaric (2005, 39) versucht eine Erklärung: das Wort in seiner ursprünglichen Funktion sei ein „nennender, heißender, rufender Name”. Helmut Schnelle (1993, 779) nennt das Verhältnis von Satz und Wort ein „delikates”, das eigentlich einer Klärung seitens der Semantik bedürfe. Das erinnert daran, dass der Satz das einzelne Wort einschränkt. Die Folgerung daraus: wenn jemand ein Buch mit Der Regenwald überschreibt, kann er nicht erwarten, dass er alles über diesen Regenwald sagen kann. Irgendwann wird es wieder einen Buchtext geben, der erneut mit Der Regenwald überschrieben ist. Und damit sind wir auch ganz nahe an dem Beweggrund der Literatur. Der Autor geht von einem Wort aus, er hat es gefunden, es fasziniert ihn, er empfindet seine Ganzheit. Dann versucht er, all das zu umschreiben, zu entfalten, aufzufalten, zu entwickeln, was das Wort ihm sagen kann. Er überschreibt den Text mit dem Titel Die Wahlverwandtschaften (Goethe), oder Der Zauberberg (Th. Mann), Die Verwandlung (Kafka) oder Lied (Bürger), Abendlied (Claudius), Abglanz (Goethe), Herbsttag (Rilke) und versucht im Text das anzulegen, was er mit dem Einzelwort im Titel benannt hat (die Vergabe des Titelwortes kann zeitlich differieren, also auch später erfolgen, gültig wird sie trotzdem). Titel(worte) sind singulär, es gibt sie meist nur einmal, und das zeigt wiederum, dass es darauf ankommt, deren Vorgabe zu erfüllen. Man hat gemeint, Titel seien die ‚Aufreißer‘ für potentielle Leser. Titel sind viel schwieriger: sie zeigen die Verbindung des Textes zum Titelwort an und sind eigentlich das ganze Geheimnis von Literatur: ein Titel-Wort gibt den „Flammenwurf” und der Autor muss brennen, um die Helligkeit zu erzeugen, die den Text auszeichnen soll. Etwas pathetisch gesagt: ein Wort ruft. Etwas weniger pathetisch, im Sinne von Bühlers Sprachtheorie: Titel sind funktionsintensiver (vgl. Weinrich 2006, 104 mit Verweis auf Arnold Rothe 1986). Das wird natürlich ausdifferenziert über Mehrworttitel wie Kabale und Liebe, Hälfte des Lebens, Irrungen, Wirrungen zu ganzen Sätzen: A la recherche du temps perdu, Und sagte kein einziges Wort, vor allem aber parallelisiert mit dem Wort, das einen ganz bestimmten Gegenstand bezeichnet, dem (Personen- oder Orts-)Namen. Also: Wilhelm Meister, Effi Briest, Patmos oder Der Stechlin (hier doppelt: Personen- und Gewässername). So offen wie das Titel-Wort (oder die Titel-Wörter) müssen auch die Text-Wörter sein. Zum Beispiel Fenster, also das Wort für den Gebäudeteil, der Licht und, geöffnet, frische Luft hereinlässt, wird in romantischen Schriften ganz anders entfaltet, nämlich als die Benennung der Idee des Perspektivismus, die mit ‚Fenster‘ zum Ausdruck gebracht werden kann. Daraufhin werden Fenster geschildert, die transparent sind, oder aber getrübt, vereist, beschriftet, zerbrochen, mit Gardinen behängt, aber auch solche, die Blicke auf Menschen freigeben oder abwehren (Jaeger/Willer 2000, 29).

 

Der literarische Text ist also keine Erläuterung einer Sache und auch nicht des anzeigenden Titelwortes, wie das für den sacherklärenden Text zutrifft. Hier ist das Titelwort Anzeige für den Inhalt des Textes, dort nur Anzeige für den Weg, den der Autor nehmen will. Eigentlich ist jeder literarische Text ein Beispiel für die Beweglichkeit (Offenheit) des Titelwortes. Ein besonders markantes sei hier genannt. Franz Kafka gibt einer Erzählung den Titel Die Verwandlung (1917) und schreibt im ersten Satz: „Als Gregor Samsa (…) erwachte, fand er sich (…) zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.” Aufgrund der weiteren Schilderung finden es Interpreten naheliegend, dass Gregor in einen Käfer verwandelt worden sei, so ähnlich wie in Märchen von der Verwandlung in Tiere erzählt wird. Allerdings schreibt der Erzähler nirgends von einem Käfer. Das genannte „Ungeziefer” hat eine schwierig zu vermittelnde Bedeutung. Tier ist seltener (Bedeutung 3b in DWB 1999, Bd. 24, 945), und wenn Tier gemeint ist, dann nicht Käfer sondern schädliche Insekten wie Mücken, Wanzen etc. Insgesamt überwiegt das Abstraktum Unreines, Schädliches, Ekelhaftes etc. (Bedeutung 1) oder aber das Opfer, das tabuisierte Wesen (Bedeutung 2). Mittlerweile, im 21. Jahrhundert, ist die Bedeutung Tier die wichtigste, allerdings eingegrenzt auf Schädling (Mäuse, Milben, Läuse, Wanzen...; Duden online), und gerade nicht auf Käfer. Die Richtung, die in der Erzählung von 1917 mit dem Wort „Ungeziefer” angedeutet wird, verweist denn auch auf einen Menschen, der sich als Schädling ansieht bzw. von den anderen als solcher angesehen wird, etwa im Sinne von Bedeutung 1 oder 2. Mensch hier ausdrücklich und nicht Käfer, weil am Ende der Erzählung der Körper des Gregor als „Leiche” und nicht als Kadaver i. S. v. Tierkörper bezeichnet wird. Damit erhält das Titel-Wort Verwandlung eine Aspektierung auf alle Personen der Geschichte und es ist dann nicht überraschend, dass sie mit der Verwandlung von Greta, Gregors Schwester, endet.

 

Titel-Worte werden für Prosatexte und Dramen fast immer gegeben, für Gedichte aber auffallend weniger. Es gibt Gedichte ohne Titel-Worte und es gibt ein Schwanken des Autors, welches Titel-Wort bestimmend sein soll. Berühmt die große Dionysos-Elegie von Hölderlin, die Brod und Wein als Titel-Worte hat, aber auch Der Weingott und Die Nacht. Das literarische Titel-Wort ist also kein (zutreffendes) Etikett, sondern der Versuch, das angesprochene Wortfeld zu skizzieren, das Wort in seiner Bedeutung offen zu halten und seine ‚Durchsichtigkeit‘ (Hans Martin Gauger) mit dem literarischen Text zu vermitteln. Diese Offenheit hält den Verstehensprozess in Gang.

 

 

 

6Das literarische Wort als offenes Wort

 

Literarische Wörter müssen viel genauer bedacht werden, weil ihre Bedeutungen nicht ‚mitgeliefert‘ werden, vielmehr nur im sprachtätigen Lesen erkundet werden können. Das erläutert Humboldt, wenn er von dem spricht, was Sprache und Wort ist, nämlich energeia. Das ist: die Leistung des Wortes, Dinge und Verhältnisse in ihrem ganzen Umfang anzudeuten, also möglichst alle seine Bereiche zu meinen, und das ist nur als Wort-Offenheit und -Bewegung möglich. „Verwandlung” meint eben nicht die plane Veränderung eines Menschen in einen Käfer, das wäre schnell erzählt. „Verwandlung” spielt an auf Metamorphosen, unter welchem Titel Ovid von den Verwandlungen von Menschen in Pflanzen, Tiere oder Sterne erzählt (das ist viel näherliegend als zunächst anzunehmen wäre: Nachrichten vom „Pontus” will Kafka hören, Brief 22./23.1.1913, womit er auf Ovid anspielt, vgl. Neumann 2012, 539). Sprachlich gesehen entwickelt der Text der Erzählung die Möglichkeiten des Wortes „Verwandlung” und wir denken noch heute darüber nach, was „Verwandlung” alles sein kann.

 

Was ist ein ‚offenes‘ Wort, was ist das ‚Offene‘ an einem Wort? Übernehmen wir die energeia-Bestimmung Humboldts, dann ist das seine Möglichkeit, Dinge und Sachverhalte zu bezeichnen, nämlich mit seinem möglichen Gegenstandsbezug und der Entfaltung alles dessen, was mit dem Gegenstandsbezug gemeint sein kann, dann aber auch etwas aufzurufen, das über diesem bloßen Gegenstandsbezug in den Hintergrund getreten ist und nun wieder bewußt gemacht werden könnte.

 

Das offene Wort ist ungenau. Wir hören, dass die „Zeichen sinken”, dann auch „die Banner”, und über die mitgegebenen Satzzeichen „ –:” erfahren wir, dass der Text mit einem Nomen endet: „Unwiederbringlichkeit”, also ohne Verb (G. Benn, „Tag, der den Sommer endet” [1922–1936], 1986, 168). Eine Übereinstimmung mit irgendetwas ist hier nicht gegeben. Benn war seit langem der erste, der das formulierte, nämlich 1935. Es war ein Wort aus eigentlich fünf Teilen – Un-wieder-bring-lich-keit –, möglicherweise eine okkasionelle Wortbildung, wie das in Überlegungen zur Erzeugung neuer und besonders der literarischen Wörter angenommen wird (Jean Aitchison [1997] 2010, 540). Es ist richtig: solche neuen Wörter sind überraschend, aber sie sind alle durchsichtig. Der Typ „dognik“ ‚Satellit mit Hund an Bord‘ ist eine erkennbare Ableitung aus „Sput[[/]nik“. Das literarische Wort hingegen lebt vom Paradox einer gefundenen klaren Aussage, die aber einen Bedeutungserschließungsvorgang erst in Gang bringt. Zum Beispiel wird der Auffassung, „Das Unzulängliche“ (Faust, v. 12106) meine das Unvollkommene, widersprochen. Gemeint sei das, was für uns nicht erreichbar ist. Für das literarische Wort kommt es auf das Signifikat an und nicht auf den Überraschungseffekt mit einem neuen Signifikanten.

 

Und so erging es auch „Unwiederbringlichkeit“. Seine Rezeption erlosch nicht alsbald, etwa weil ein Konsens fehlte und keine Frequenz aufgebaut werden konnte (Aitchison 2010, 540 u.ö.). Vielmehr trat das ein, was ‚offenen‘ Wörtern widerfahren kann: obwohl ungewohnt bis unbekannt, werden sie angenommen, vielleicht auch verstanden. Das Ungewohnte, das sie mitbringen, stört nicht, ist im Gegenteil Anreiz, über das nachzudenken, was sie aufrufen. Dieses Wort „Unwiederbringlichkeit” ist sogar schon seit längerer Zeit Anreiz (nämlich seit dem 18. Jahrhundert), hat Buchungen in Adelung und DWB, und Verwendungen bei Doderer und Benjamin, sowie eine adjektivische Korrespondenz im Romantitel von Theodor Fontane, Unwiederbringlich (1891). Dieses Wort breitet seine Benennungsmöglichkeiten aus und taucht in die Dimension ein, die seiner Offenheit entsprechen: dem Verständnis als dem Kriterium, das seinem „Flug” (aus dem Gedicht Das Wort) folgen kann.

 

Allerdings ist das nicht ‚selbstverständlich‘. Verstehen ist zunächst einmal die Fähigkeit und Möglichkeit, übermittelte Sachverhalte in das vorhandene Wissen einordnen zu können. Das literarische Wort, gerade weil es ‚offen‘ formuliert wird, übersteigt das vorhandene Wissen merklich oder unmerklich. Ein „Unzulängliches”, das „Ereignis” wird (Goethe, Faust vv.12106–12107), also ein Geschehen – das ist eigentlich nicht verständlich! Ähnlich unverständlich ist ein „Übermensch” (Nietzsche) oder „das Gesetz” (Kafka, Der Process), das doch eigentlich einen Sachverhalt genauestens erfassen und darstellen soll, aber im Roman demjenigen, dem Übertretung dieses Gesetzes vorgeworfen wird, weder bekannt ist noch erläutert wird. Das gilt auch für eine „Belagerung”, die aus der Sicherung eines Gefährdeten resultiert, also gerade nicht zu dessen „Eroberung” oder „Einnahme” führen soll – wie „Belagerung” bis dahin verstanden wird (Heinrich Böll, Fürsorgliche Belagerung, 1979). Unverständlichkeit führt normalerweise zur Abwendung und Nichtbefassung. Hier nicht. Und das ist ein eigentümlicher sprachlicher Vorgang. Zunächst deshalb, weil ein Wort („Übermensch”), für das kein Signifikat angegeben werden kann, sich im Gespräch hält. Und darin liegt denn auch die Erklärung: Wörter sind nur zum Teil Verweisanzeichen für Sachen. Wer spricht schon so, dass er nur verweist? Mittlerweile wird dieser eigenartige (Verweis-)Bereich des ‚Außersprachlichen‘ eingeebnet und es bleibt nur noch Richard Rortys amüsierte Bemerkung über die ‚Tatsachen‘: Wir müssen lernen, „dass die Welt uns nicht mit Kriterien für die Entscheidung zwischen alternativen Metaphern ausstattet, dass wir Sprachen und Metaphern nur miteinander vergleichen können, [und] nicht mit einem Ding namens ‚Tatsache‘ jenseits der Sprache” (1989, 48).

 

 

 

7Verständlichkeit

 

Wörter werden gesprochen (und geschrieben), weil sie eine Resonanz bei anderen auslösen sollen. Diese Resonanz nennt man Verstehen, ihren Modus Verständlichkeit. Hierin liegt das Motiv für die Ausbildung von Fach- und Standardsprachen: sie garantieren in gewissen Modifikationen, dass das, was mit ihnen formuliert worden ist, den Anspruch haben kann, von anderen verstanden zu werden. Mit dieser Verständlichkeit verwirklichen sie das Humboldt‘sche Verstehens-Axiom, das auf die notwendige Tätigkeit des Empfangenden hinweist: der Sprecher muss seine Äußerung in die Form gießen können, „die er (der Empfangende, U.K.), für sie bereitet, hält und das ist es, was man verstehen nennt” ([1827-1829], 156).

 

Wenn der Empfangende aber keine Form bereiten kann? Dann wird sich das Verstehen nicht einstellen können und das trifft häufig auf literarische Wörter zu. Wenn Nietzsche das Wort „Übermensch“ formuliert und hinschreibt, erregt er Missverständnis und Unverständnis, also das Gegenteil von Zustimmung bzw. Verstehen. Aber unerwartet stellt sich die Neugier ein, es doch verstehen zu wollen. Man könnte annehmen, das gälte eher für neue Wörter oder neue Wortprägungen, wie das Jean Aitchison ([1997] 2010) annimmt (dazu s.o.). Das ist aber höchst selten der Fall. Nahezu alle ‚neuen‘ Wörter Goethes z.B. sind schon länger vor ihm in Umlauf und erscheinen nur neu, weil die Frequenz gering ist. Das oft genannte „Knabenmorgen- /Blütenträume” (aus: Prometheus, 1. Fassung, 1772–1774; 1806: „Blütenträume”) ist ein Satzwort und diese gehen höchst selten in den allgemeinen Wortschatz ein (z.B. Vergißmeinnicht). Das literarische Wort gehört als Signifikant zum allgemeinen Wortschatz, ist aber trotzdem rätselhaft und entwickelt daraufhin mit seiner geahnten Bedeutung eine lang anhaltende Faszination, aufzuklären, wie man es verstehen könnte. Viele fühlen sich aufgerufen zu sagen, wie sie literarische Wörter verstehen, und geraten darüber in weitreichende Auseinandersetzungen mit anderen, die ein anderes Verständnis haben. Das war um 1800 Anlass für die Begründung eines wissenschaftlichen Verfahrens: die Einrichtung einer Literaturwissenschaft, die Teile der älteren Philologie übernahm, die seit der Antike die Literatur begleitete. Sie erklärt nun, methodisch gerüstet, diese Wörter und ihre Texte. Mittlerweile ist klar, wie „Ereignis” (Faust, v. 12107) zu verstehen ist: als ‚Sichtbarmachung, Veranschaulichung‘ („eräugnis” wie Goethe auch schreibt; vgl. hierzu Goethe-Wörterbuch, 1974ff., Bd.3, 263–265). Die Diskussion um „Übermensch” ist noch im Gange. Bei „Gesetz” ergab sich etwas anderes: der Umstand, dass ein Wort mit zweifelhaftem Gegenstandsbezug trotzdem eine Wirkung entfalten kann, hat zu dem umgangssprachlichen Wort „kafkaesk” i. S. v. ‚unerklärlich bedrohlich‘ (so auch im Englischen), geführt. „Belagerung” behält seine militärische Bedeutung als ‚Einkesselung‘, eine zweite kommt nun hinzu: ‚Heimsuchung, Behinderung‘.

 

 

 

8Der Differenzwortschatz und die Markierung poet.

 

Der Anreiz, das Wortverständnis zu erkunden, ist also sprach-produktiv. Allerdings ist die Erkenntnis öfters unvollständig, nämlich dann, wenn unser Wortbedeutungsverständnis auf Wörter angewendet wird, die aus zeitlich zurückliegendem Sprechen und Schreiben stammen und dort in andere Bedeutungszusammenhänge eingebunden waren. Grün ist für uns eine Farbe und Leben die zeitliche Erstreckung eines Existierens. Dann erscheint uns „Und grün des Lebens goldner Baum” (Goethe, Faust, v.2039) widersprüchlich, ein grüner Baum, der golden ist? Und „Hälfte des Lebens” wird als biographische Lebensmitte verstanden, aber ist das damit gemeint? Gefordert ist also eine andere sprachliche Produktivität: das Erforschen zurückliegender Wortverständnisse bzw. regionaler Unterschiede. Literatur, die heute (noch) rezipiert wird, stammt aus sprachlichen Verhältnissen, die bis zu 250 Jahre zurückliegen (Lessing). Aber auch Literatur aus dem 20. Jahrhundert kann missverständlich sein. So könnte der Titel von H. v. Doderers Roman Strudelhofstiege (1951) eine unansehnliche ‚Hintertreppe‘ meinen (norddeutsch), während er tatsächlich eine prächtige Treppenanlage im 9. Bezirk Wiens bezeichnet. Das Gros der erklärungsbedürftigen Wörter stammt allerdings aus früherer Zeit und hat die ansehnliche Menge von durchschnittlich jedem sechsten Wort in einem Klassikertext (Knoop 2011, 200). Durch Aussehensgleichheit wird die Erklärungsbedürftigkeit etwas verstellt, also nicht orthographisch angezeigt (wie das bei fodern, Reuter, genung, giebt u.a. sichtbar wird). Grün hat um 1800 die zweite Bedeutung ‚sprießend‘, und auf die bezieht sich die Faust-Stelle, so dass gemeint ist: der goldene Baum gedeiht weiterhin (vgl. Goethe-Wörterbuch 1974ff. Bd. 4, 511). Ähnlich Leben, das um 1800 vor allem als ‚Lebenswille, Lebenskraft‘ verstanden wird, so dass „Hälfte des Lebens” eher die Halbierung dieser Lebenskraft meint und das Gedicht die Befürchtung eines dichterischen Verfehlens für ein ganzes Leben beschwört (Knoop 2008, 67ff.). Die Menge dieses Differenzwortschatzes ist groß, sie geht weit über die bekannten Wörter wie merkwürdig etc. hinaus und gilt für solche angenommene Selbstverständlichkeiten wie Wohlstand (‚Anstand, Erziehung’), Fräulein (auch: ‚Prostituierte‘), bewußtlos (‚von Sinnen, aber handlungsfähig‘), klirren (‚klappern‘), blau (‚hell‘), Soldatenglück (‚Soldatenschicksal‘), Ereignis (‚Sichtbares‘), Marmorbild (‚Statue‘), zweideutig (‚unsicher‘), durchaus (‚gänzlich‘), englisch (‚engelhaft‘), lispeln (‚flüstern‘), vergnügt (‚zufrieden‘), blöd (‚schwach, kurzsichtig, schüchtern‘), umständlich (‚umfassend‘), ängstlich (‚eng‘) u.v.m.

 

Diese Erklärungsnotwendigkeit könnte in eins gesehen werden mit einer eigenartigen Erscheinung in neueren Wörterbüchern, nämlich gewisse Wörter mit „poet.“ zu markieren. Das erweckt den Eindruck, als würde ein Autor zu solchen Wörtern greifen, um seinem Text die Markierung Dichtung zu verleihen. Ein solchermaßen markiertes Wort, Gestade, wird aber heute noch in Sachtexten verwendet, allerdings in geringer Frequenz. Um 1800 war die Frequenz erheblich höher und das lag daran, dass Gestade das gängige süddeutsche Wort für ‚Ufer‘ war (Adelung 1793ff. s.v.), weshalb es in den Texten von Hölderlin öfter vorkommt. Dann erfolgte die Standardisierung mit ihrem Variantenabbau und Ufer wurde als alleiniger Ausdruck durchgesetzt. Das heutige Vorkommen ist also kein Ausweis für „poet.”, sondern nur der Reflex darauf, dass die (süddeutschen) Texte des 18. und 19. Jahrhunderts noch von Rezeptionsinteresse sind. Diese Markierung ist ein Hybrid standardsprachlicher Wörterbuchmacher und kein Anzeichen poetischer Sprache, die es ohnehin in einer solchen Formalisierung nicht gibt.

 

9Performanz

 

Das literarische Wort ist auf die ganze Fülle und Weite der möglichen Wortbedeutungen angelegt und zeigt „den lebendigen Keim nie endender Bestimmbarkeit in sich” (Humboldt [1830–1835], 436). Aber auch das vermag die gegebene Grenze zwischen Nennen (bedeuten) und Sein nicht zu überbrücken: das, was gesagt wird, ist (physisch) nicht das, worüber es etwas sagt. Deshalb ist die bevorzugte Zeitform des literarischen Worts auch die Vergangenheit, manchmal auch die Zukunft, aber nur unter großen Schwierigkeiten die Gegenwart. Denn das literarische Wort kann im Augenblick seines Gesagtwerdens etwas Gegenwärtiges benennen, dann aber, in der weiteren Tradierung, wird das gegenwärtig Gemeinte immer unzutreffender, weil diese Gegenwart vergeht und das literarische Wort zu einer Benennung dessen wird, was einmal war. Es unterliegt also zwei Verschiebungen, einmal der Benennung als dem Gesagten, dass es so sei – und der gleichzeitigen Erkenntnis, dass das Sagen nicht das Ereignis ist –, und zum anderen, dass das Benannte vergangen ist, lediglich einstens war und nicht jetzt, also nicht in dem Augenblick, in welchem das literarische Wort noch mal gesagt (oder gelesen) wird.

 

Wie keinem anderen ist das Hölderlin klar. Der Wunsch, dass „das Wort (…) das Ereignis des Heiligen ist” (Heidegger 1971, 76; Hervorhebung U.K.), wäre für Hölderlin eine Gleichsetzung der Vermittlung mit dem Unmittelbaren und die gibt es für Hölderlin nicht. Vielmehr sagt er in dem Gedicht „Wie wenn am Feiertag ...: „das Heilige sei mein Wort” (Hervorhebung U.K.) und benennt das Ereignis als etwas, das sein soll, aber nicht ist. Damit zeigt er an, dass er über das Reden, das das Ereignis ja nicht ist, sondern es nur sagt, hinaus will. Wir stoßen hier auf die immer wieder (philosophisch, erkenntnistheoretisch) besprochene Grenze von Nennen (Sprache) und Sein (das, was ist). Das literarische Wort versucht, die Möglichkeiten des Nennens überhaupt zu erfassen und auszuschöpfen, aber die Dimensionen der „Zeit” und der „Trennung” sind nicht zu transzendieren (Menninghaus 2003 [=1987], 55). Hölderlin stellt sie als Erscheinungsproblem des literarischen Wortes auch genauestens dar: es kann „eine todte und tödtende Einheit” werden, also eine bloß repräsentative Darstellung, wenn das Sein nur in einem ihm „äußeren Organ” wiedergegeben wird (Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes, StA 4,1, 252 ff.). Es geht also darum, „wie das poetische Schreiben nicht nur auf etwas ihm Voraufliegendes (die sogenannte wirkliche Welt) sich beziehen kann (dies der Bedeutungsbezug), sondern das, wovon geschrieben wird, im Schreiben selbst präsent sein kann (Seinsbezug)” (Reuß 1999, 21, Anm. 77). Hier liegt also die große abendländische Unterscheidung von Sein und Bedeutung vor – und ihre Lösung. Hölderlin dekonstruiert die präsenzmetaphysischen Vorgaben im Darstellungsproblem (Menninghaus 2003 [=1987], 61), auf dass das ‚Lebendige‘ aus dem Wort entspringt und die Wörter schöpferisch produzierende Momente werden, und zwar so, dass nicht das Vorhandene umgesetzt wird, sondern erst das Wort sich einfindet. Dann ergibt sich aus dieser „Thätigkeit, die unendliche schöne Reflexion, welche (…) durchgängig beziehend und vereinigend ist” (Hölderlin StA 4.1., 265). Hölderlin hebt ab auf die positive Verpflichtung der Sprache – also eine zu erhoffende –, auf ihre eigenen Bahnungen, auf die Immanenz ihres ‚Wirkungskreises‘ als Lösung des Reflexions- und Darstellungsproblems (vgl. Menninghaus 2003 [=1987], 63). Es ist das, was Reuß anspricht, dass nämlich im „evokativen Sprechen” die Dinge selbst entstehen. So wird in der Elegie Brod und Wein nicht von der stillen Gasse gesprochen, sondern diese wird am Ende des Verses „still” – eine Gasse also, die es in diesem Zustand erst jetzt so gibt, nämlich als Möglichkeit von ‚Gasse‘ (Reuß 1999, 21). Das klingt für den üblichen Gebrauch etwas abständig, wird aber vielleicht klarer, wenn neuere Überlegungen zur Klarheit ins Spiel gebracht werden, die darauf abheben, dass Erkenntnisse auch in der Phantasie, also dem bloß Gedachten, stattfinden können (Schildknecht 2008, 782). Entscheidend jedoch ist, dass das Wort sich nicht durch eine ‚äußere‘ Dingweltlichkeit, sondern durch und mit sich selbst begründet, also performativ verstanden wird. So wie Novalis das kurz und knapp festhält und deshalb die Dingbezogenheit spottend ablehnt: „Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, dass die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen.” (Monolog, in: Schriften Bd. 2, 672; ausführlicher zu diesem sprachtheoretischen Gedankengang Gardt 1999, 249). Eben das spielte auch in der Anfangsphase der Sprechakttheorie eine Rolle. Mit der Einführung der illocutionary und perlocutionary force verabschiedet sich J. L. Austin von dem repräsentationslogischen Zeichenmodell und gibt Jacques Derrida die Vorlage für seine Darstellung von „signature événement contexte” (1972): Austin benennt das Performative der Sprache als Produktion und Verwandlung, es wirkt (Näheres bei Jaeger/Wille 2000, 16). Damit gewinnt die Performation wieder den Stellenwert, der für die Erklärung der Wort-Wirkung unerlässlich ist (Linke/Feilke 2009). Spiel, Aufführung, Darstellung und eben Wort-Wirkung prägen und entfalten Sinn, der dann wahrgenommen werden soll.

 

10Die vielfältigen Verbindungsmöglichkeiten des literarischen Wortes

 

Damit kommt etwas ins Spiel des literarischen Wortes, das bislang wenig Beachtung gefunden hat. Früher, um 1800, war es selbstverständlich, dann wurde es formalisiert eben als bloße Form: wie werden diese Wörter eigentlich so zusammengestellt, dass sie nicht einzeln dastehen, sondern sich mit anderen Wörtern sinnvoll verbinden? Syntaktisch, so lautet die erste Antwort, also nach den Vorgaben des grammatischen Baus einer Sprache. Aber wenn wir Wörter in der Literatur aufsuchen, sehen wir mehr und anderes. In der Prosa sind sie gruppiert in Absätzen, Kapiteln und Büchern (früher: Zusammenfassung mehrerer Kapitel). Ein besonderes Moment ist der erste Satz, mit dem eine Erzählung beginnt: „Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg.” (G. Büchner 1839, Lenz) oder der letzte Satz, mit dem sie schließt: „Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet” (J. W. Goethe 1774, Werther). Erkennbar wird hier ein weiteres Verbindungselement: der Rhythmus (Verhältnis von Pause und Aktion). Diesen gibt es auch in der Lyrik. Zusätzlich dann weitere Verbindungsmittel für Wörter: den Reim (‚dem Wort A folgt ein Wort mit dem Wortklang A’), den Versfuß (z.B. Jambus) und das Versmaß (z. B. Blankvers mit fünf Jamben), die Strophe als Zusammenfassung mehrerer Verse, z.T. mit vorgegebener Abfolge (z.B. Stanze), und die Gedichtform als Kombination mehrerer Strophen (z.B. Sonett). Mit dieser Art von Wortverbindung erhält das literarische Wort zudem eine besondere Gestaltung der Zeit, einmal in der Folgeanordnung der Wörter und zum anderen in der Erinnerungsdauer. Will ein Autor ein literarisches Wort hervorrufen, dann muss er darauf hören, wie es sich in diese besonderen Formen der Wortverbindung einfügen kann. Erst dann klingt es ‚frei‘. So spricht das literarische Wort aus erstaunlichen Dimensionen und verweigert sich dem vorschnellen Schließen. Es kann deshalb die Aufmerksamkeit des Zuhörens über lange Zeit für sich in Anspruch nehmen.

 

11Literatur

 

 

 

11.1Monographien stattdessen: PRIMÄRLITERATUR

 

 

 

Ingeborg Bachmann (1978): Inge Koschel et al. (Hg.): Werke. Bd. 1. München.

 

Gottfried Benn (1986): Gerhard Schuster (Hg.): Sämtliche Werke, Bd. 1 Gedichte 1. Stuttgart.

 

Ernst Cassirer (1923): Philosophie der symbolischen Formen. Teil I: die Sprache. Berlin.

 

Paul Celan ([1958] 1977): Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker (1958). Wiederabgedruckt in: Dietlind Meinecke: Über Paul Celan. Frankfurt am Main 1973, S. 23 – 27.

 

Jacques Derrida (1972): signature événement contexte. In: ders.: Marge de la philosophie. Paris, 365 - 393.

 

Hans-Martin Gauger (1976): Sprachbewußtsein und Sprachwissenschaft. München.

 

Martin Heidegger (1971): Erläuterungen zu Hölderlins Dichtungen. 4., erweiterte Auflage. Frankfurt a. M.

 

Martin Heidegger (1999): Vom Wesen der Sprache. Frankfurt (= Gesamtausgabe Bd. 85).

 

Ludger Hoffmann (Hg.; 2010): Sprachwissenschaft. Ein Reader. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Berlin/New York.

 

Hugo v. Hofmannsthal (1991): Ein Brief. In: Ellen Ritter (Hg.): Sämtliche Werke. Bd. XXXI Erfundene Gespräche und Briefe. Frankfurt am Main, S. 45 – 55.

 

Wilhelm v. Humboldt ([1824 – 1826]): Gründzüge des allgemeinen Sprachtypus. In: Wilhelm v. Humboldt. Albert Leitzmann et al (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. 5, (Nachdruck) Berlin 1968), 344 – 474.

 

Wilhelm v. Humboldt ([1827 - 1829]): Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues. In: Wilhelm v. Humboldt. Andreas Flitner/Klaus Giel (Hg.): Schriften zur Sprachphilosophie. 3. durchgesehene Auflage. Darmstadt (= Werke in fünf Bänden, Bd. III.), 1969, 144 - 367.

 

Wilhelm v. Humboldt ([1830 - 1835]): Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts. In: Wilhelm v. Humboldt). Andreas Flitner/Klaus Giel (Hg.): Schriften zur Sprachphilosophie. 3. durchgesehene Auflage. Darmstadt (= Werke in fünf Bänden, Bd. III.), 1969, 368 - 756.

 

Wolfgang Iser (1993): Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M.

 

Bruno Liebrucks (1979): „.Und“ – Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos, Wirklichkeit und Realität. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas (= Sprache und Bewusstsein, Band 7).

 

Niklas Luhmann (2009): Die Realität der Massenmedien. 4.Auflage. Wiesbaden.

 

Metzler Lexikon Sprache (2010): Helmut Glück (Hg.). 4. aktualisierte u. überarbeitete Aufl. Stuttgart/Weimar.

 

Gerhard Neumann (2012): Kafka - Lektüren. Berlin/New York.

 

Richard Rorty (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übersetzt v. Christa Krüger. Frankfurt a. M

 

Wahrig (2011): Deutsches Wörterbuch. Von Renate Wahrig-Burfeind. Gütersloh/München.

 

Harald Weinrich (2006): Sprache, das heißt Sprachen. 3. Aufl. Tübingen.

 

Ludwig Wittgenstein ([1953] 1993): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main.

 

 

 

11.2Artikel in Sammelbänden und Zeitschriften

 

stattdessen: SEKUNDÄRLITERATUR

 

 

 

Johann Christoph Adelung (1793 ff.): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig.

 

Jean Aitchison ([1997] 2010): Wörter im Kopf. Globbernde Matratzen. Das Erzeugen neuer Wörter. In: Ludger Hoffmann (Hg., 2010), S. 540 – 553.

 

Daniel Barbaric (2005): Hörendes Denken. In: Günter Figal/Hans-Helmuth Gander (Hg.): Dimensionen des Hermeneutischen: Heidegger und Gadamer. Frankfurt a.M., 37 - 58.

 

Gaetano Berruto (2004), Sprachvarietät - Sprache. In: Ulrich Ammon et al.: Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2.Aufl. 2004, 188 – 195.

 

Manfred Bierwisch (1965): Poetik und Linguistik. In: Rul Gunzenhäuser/Helmut Kreuzer: Mathematik und Dichtung. München, 49-65.

 

Armin Burkhardt (1983): Bedeutung und Begriff. Zur Fragwürdigkeit des Wittgensteinschen Methodologie-Konzepts. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 37, 68 - 87.

 

Donatella di Cesare, (2011): Das unendliche Gespräch. In: Günter Figal (Hg.): Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Berlin, 157 - 176.

 

DWB (1999): Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Leipzig 1854 ff. Zitiert wird nach der dtv-Ausgabe von 1999.

 

Peter Eisenberg (2013): Grundriß der deutschen Grammatik.Bd 1, Das Wort. 4. Auflage. Stuttgart/Weimar.

 

Andreas Gardt (1999): Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland: vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Berlin/New York.

 

Goethe-Wörterbuch (1978 ff.): Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften u.a.(Hg.): Goethe-Wörterbuch. Stuttgart.

 

Gerhard Helbig/Joachim Buscha (1996): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 17. Auflage. Stuttgart.

 

Stephan Jaeger/Stefan Willer (2000): Einleitung. Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800. In: dies. (Hg.): Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800. Würzburg, 7 - 30.

 

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Sebastian Löbner (2003): Semantik. Eine Einführung. Berlin/New York.

 

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Roland Reuß (1999): Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur ‘Textgenese’. In: TEXT 5, 2 - 25.

 

Arnold Rothe (1986): Der literarische Titel: Funktionen, Formen, Geschichte. Frankfurt am Main.

 

Christiane Schildknecht (2008): Klarheit in Philosophie und Literatur. Überlegungen im Anschluss an Peter Bieri. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5, 781 - 787.

 

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Michael Sukale (1988) : Denken, Sprechen, Wissen. Logische Untersuchungen zu Husserl und Quine. Tübingen.

 

Boris V. Thomaschewski (1985): Theorie der Literatur, Poetik. Übersetzt von Ulrich Werner. Wiesbaden.