Ulrich Knoop
Gedanken zu Albrecht Dürers Stich Melencolia I
Weihnachten 2016

 


Dem Stich Melencolia I von Albrecht Dürer bin ich schon früh begegnet. Die anhaltende Anziehung wurde durch eine Besonderheit geprägt, nämlich durch den klaren Blick, den der Genius aus einer Dunkelheit heraus quer durch das Bild in eine unbekannte Ferne richtet. Davon wird noch zu reden sein. Seit seinem Erscheinen im Jahr 1514 gibt es unzählige Vorschläge, wie dieses Werk zu verstehen sei. Lange Zeit wurde der Titel „Melancholie” als „Schwarzgalligkeit“ verstanden, dann, seit der Romantik, als Ausdruck für die Stimmung „süße Schwermut“. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert versuchte die Kunstwissenschaft all das zu ergründen und zu verstehen, was auf dem Stich zu sehen ist. So wurde dieser Stich zum großen Probierstück der ikonographischen Methode, die, ausgehend von Aby Warburg, vor allem von Erwin Panofsky, Fritz Saxl und Raymond Klibansky (s. Literaturverzeichnis) zu einem umfassenden Erklärungsversuch gebracht wurde. Gezählt sind es um die 35 Gegenstände, für die eine ikonographische Erklärung gefunden werden soll. Mit dieser Ikonographie erfahren wir, dass Sanduhr, Waage, Hund oder Kugel Zeichen des Saturn sind, der wiederum mit dem Temperament der Melancholie verbunden ist. Wir erkennen das Handwerkszeug in Säge, Hobel oder Nägel, die geometrischen (Mess-)Mittel, den aufgesetzten linken Arm des Genius und die Hand, die als Faust an die Wange gelegt ist, das ge- oder verschlossene Buch im Schoß des Genius, den Putto auf dem Mühlstein, das Modell des Vielecks, die Leiter, die Glocke, deren Zugseil nach außerhalb des Bildes geht, das fliegende Tier im hellen Hintergrund mit dem Schriftzug und den Stern mit Schweif, vermutlich ein Komet.

 

Trotz der weitläufigen Erklärungen von Panofsky, Saxl und Klibansky will sich aber keine Einsicht darin ergeben, dass hier ein Ganzes abgebildet würde, auf das und über das hinweg der Genius blickt bzw. das wir sehen, wenn wir Einblick in diese Ansammlung nehmen wollen.

 

Es sieht so aus, als ob das ikonographische Verfahren gerade bei diesem alle Welt bewegenden Bild zu keinem Ergebnis kommen kann. Und indem ich versuche zu ergründen, warum das so ist, kommt mir die Ahnung, dass die Ursache im Bild selbst liegen könnte, nämlich in seiner Besonderheit. Die wird dazu geführt haben, dass dieser Stich als ein unlösbares Rätsel durch die Jahrhunderte hindurch alle Welt interessiert.

 

Der Ansatz der ikonographischen Methode besteht in der Voraussetzung, dass ein Bild Gegenstände abbildet, denen dann dadurch eine besondere Bedeutung zukäme. Eine Waage ist nicht nur das gewöhnliche Messinstrument, sondern Zeichen für Gerechtigkeit oder für einen Gott (Saturn z.B.). Der Künstler überhöht die gewöhnlichen Gegenstände mit Bedeutungen, deren Logik die ikonographische Methode herausbekommen will. Sie beschäftigt sich also mit dem Bedeutungsüberschuß, den ein Künstler in sein Bild eingetragen hat. Damit werden Bilder und Darstellungen zu Überhöhungen der sog. Realität, deren Wirklichkeit aber in ihren Anblicken selbst nicht so ist, wie es scheint. Ein abgebildetes Rad mit einer Frauengestalt verweist beispielsweise auf die Geschichte der Hlg. Katharina und schließt damit den logischen Prozess, demnach ein Rad nicht bloß Teil eines Wagens ist, sondern Anzeichen für eine Heilige. Ein Bild ist in dieser Sicht eine Zusammenfassung der Bedeutungen oder anders herum: eine Darstellung vom besonderen Glanz, der Auserwähltheit, der Singularität des Dargestellten, und läßt darüber vergessen, dass auch schon die Abbildung des realen Teils eines Wagens nicht die Realität sein kann, weil diese schon im Leben schwer zu bestimmen ist, um so schwieriger aus eine Ab-bildung heraus.

 

Warum ergibt sich aus dieser Methode nun aber kein Anzeichen eines Erklärungszusammenhangs für die vielen Gegenständen auf diesem einen Stich? Bleibt dieses Bild weiterhin ein „Tummelplatz für Deutungen”, wie das Heinrich Wölfflin am Beginn des 20. Jahrhunderts sah?

 

Betrachten wir den Stich ganz unbefangen, dann fällt als erstes das „Sammelsurium” auf, also diese scheinbar ungeordnete Ansammlung von Gegenständen, weshalb es naheliegend ist, nun anzunehmen, dass genau dieser Eindruck vom Stich hervorgerufen werden soll. Nicht einzelne Gegenstände haben eine (überhöhende) Bedeutung, sondern zusammen kommt ihnen eine Bedeutung zu, nämlich die, ein Sammelsurium zu sein, allerdings ein besonderes, was sich aus der Auswahl der Gegenstände begründet. Sie haben alle etwas mit dem „Bestimmen”, dem „Messen” zu tun.

 

Wenn aber die Gegenstände keine überhöhende Bedeutung haben, dann könnten sie doch als sie selber dargestellt sein, gebrauchsfertig und brauchbar. Sie müssten dann entsprechend dieser Absicht in ihrer Bereitstellung gezeigt werden, also: Säge, Hobel oder Nägel in einer Werkstatt, die Waage an der Wand eines Rathauses oder in der Hand der Justitia, die Sanduhr auf dem Tisch eines Gelehrten. Und so wird auch die besondere Anlage dieser Gegenstände deutlicher: sie sind fast wahllos hingestreut. Hobel, Säge, Nägel im Staub; die Waage völlig beziehungslos an einem Pfeiler aufgehängt, gehemmt in der Wiegebewegung durch den darunter sitzenden Putto. Die bildnerische Aussage ist also: viele wichtige Werkzeuge sind versammelt, wichtig deshalb, weil sie grundlegend sind für die Bestimmung der realen Phänomene. Aber sie sind so versammelt, dass sich mit ihrem Gebrauch kein sinnvolles Ganzes ergibt bzw. ergeben hat, denn die Werkzeuge sind offensichtlich deshalb abgelegt worden, weil sie wenig nutzbringend sind. Das wird schon seit dem 19. Jahrhundert vermerkt: „Alles steht still“ (Rainer Hoffmann 2014, S.54,  der in Anm. 185 die Feststellungen dazu versammelt).

Möglicherweise erfolgte die Ablage sogar mit einem gewissen Verdruss, der daraus entsteht, dass man probiert hat, etwas herauszufinden, nun aber feststellen muss, dass mit diesen Werkzeugen, obwohl sie so vielversprechend sind, nichts zu bewerkstelligen oder herauszubringen ist.

 

Diese Aussichtslosigkeit wird besonders an der Art und Weise deutlich, wie die beiden Figuren ihre Werkzeuge halten. Der Putto bedeckt die Schreibtafel fast gänzlich mit seinem linken Unterarm, wodurch die Schreibfläche gar nicht beschreibbar ist. Den Schreibgriffel umklammert er mit der rechten Faust, so dass er eigentlich gar nicht schreibt, sondern nur „hält”. Wie wenig er ans Schreiben denkt, geht auch daraus hervor, dass er nicht nur nicht auf die Schreibtafel schaut, sondern fast keine Blicke wirft. Abgebildet wird also nicht ein schreibender Putto, sondern einer, der über Schreibwerkzeuge ersichtlich verfügt, sie aber gar nicht anwendet. Auch der Genius hält den Zirkel nicht so, als wolle er damit etwas anzeigen oder gar anreißen, sondern so, als sei dieser Zirkel ein untaugliches Mittel, vorhanden zwar, aber eben nicht geeignet. Diese Zirkelhaltung ist bildlich ziemlich zentral und steht im Gegensatz zur Zirkel-Handhabung in anderen Stichen, z.B. in „Der Astronom” (1504) von Albrecht Dürer oder „Gott als Schöpfer mit dem Zirkel” (14. Jahrhundert; abgebildet bei Böhme, Abb. 27 und 28 auf S. 40 und 41), wo der Zirkel im Achsengelenk gehalten wird und sehr bestimmend aussieht. Andere Stiche zeigen eine Melancholie-Figur mit Zirkel, einmal ähnlich wie Dürer, nämlich gehalten am Schenkel des Zirkels (Jost Amann, „Melancholie”, 1589), ein andermal gehalten im Gelenk (Virgil Solis [1514-1562], Die vier Temperamente, ca. 1550).

 

Wenn wir alle diese Werkzeuge als Ausdruck für das (damalige) technische Können nehmen, dann hieße das: alles, was der Mensch machen kann, erbringt kein abgeschlossenes Werk, keinen Zusammenhang, keine pulsierende Welt. Wir Menschen können zwar Einzelnes erkunden und darstellen, aber seine Hervorrufung, auf dass es „da” sei, können wir nicht initiieren und schon gar nicht erwirken, vor allem können wir nicht eine Welt erstellen.

Daraus resultiert die Resignation des Melancholikers: es gibt etwas, das uns diese Welt eröffnet hat und weiterhin eröffnet, doch all unser Erkunden und Erforschen nützt nichts, wenn es darum geht, dieser Welt, wie sie z.B. hell erleuchtet im oberen Bildteil sichtbar wird, zu entsprechen, alles von ihr zu wissen oder sie in ihren Begründungen und Grundlagen vollständig verstehen zu können.

 

Diese Deutung könnte mit der Figur des Genius korrespondieren, wenn er so gesehen und verstanden wird, dass er vor sich „hin brüte” und „melancholisch“ aussehe. Das führt zu der heute offenbar gängigen Meinung, mit der Titelgebung „Melencolia“ sei die Verkörperung der Melancholie in der zentralen Genius-Figur gemeint, so dass diese Figur häufig die „Melancholie-Figur” oder kurz „die Melancholie“ (Rainer Hoffmann, S. 33 u.ö.) genannt wird, obwohl der Stich viel mehr abbildet. Daraus erhellt, dass die Figur nur ein Teil des Begriffes ‚Melancholie‘ sein kann. Das Bild stellt doch die Frage, was denn ‚Melancholie‘ ist, und beantwortet sie ganz gewiss nicht mit einer Figur, die nur etwa 1/4 des Bildes einnimmt.

 

Die Titelgebung des Stichs: „MELENCOLIA § I” gibt uns schon einen ersten Hinweis. Die oder das „I” kann so ausgelegt werden, dass weitere Temperamentsdarstellungen vorgesehen sind. Das Trennzeichen „§” würde dann ‘nun kommt eine Zahl’ anzeigen. Das könnte die arabische 1 sein, die damals mit „I” angezeigt werden konnte. Möglicherweise wäre auch die römische 1 gemeint. Beide Ziffern würden dann anzeigen, dass weitere Darstellungen der Melancholie folgen würden, also 2, 3 und 4.

 

„I” könnte aber auch alphabetisch „i” anzeigen, als Initial für die Bezeichnung der untersten Stufe der Melancholie i.S. Agrippas’ „imaginationis”, die vor allem für den mathematisch-schöpferischen Menschen gilt. Auch dies würde weitere Folgen der Melancholie-Darstellung ankündigen.

 

Nun wird gern angeführt, dass die handgestützte Wange als Sinnbild für „den“ Melancholiker verstanden werden kann. Doch nicht alle, die mit dieser Geste gezeigt werden, sind Melancholiker. Diese Geste ist viel allgemeiner: sie zeigt eine Nachdenklichkeit an, die eben auch dem Melancholiker eigen ist.

Der Genius hat außerdem weiteren Attribute, die so gar nicht zu einem Melancholiker passen wollen: Er ist weiblich.

Aber es gibt sonst keine Abbildung eines weiblichen Melancholikers vor oder gleichzeitig mit Dürer. Er ist geflügelt, aber kein Melancholiker ist geflügelt, denn sein Temperament ist ein menschliches. Kein Melancholiker schaut so bestechend klar in die Welt hinaus. Der Blick des Genius’ ist zielorientiert und vorwärts gerichtet, also ganz anders als das, was Heinrich Wölflin sieht, der im Genius einen Melancholiker erkennen will: düster-starr würden die Augen blicken. Das stimmt für die „Melancholie”-Darstellungen, die Panofsky, Saxl und Klibansky versammeln. Diese Melancholie-Figuren (Abb. 119 bis 155) haben die Augen niedergeschlagen, sogar die Figur von Lukas Cranach (Abb.133 bis 135), die andererseits durch ihre Lebendigkeit auffällt,  -  nur die Melencolia-Figur nicht.

 

Daraus ergibt sich: Gleich, dass alles, was im Stich dargestellt ist, zum Temperament Melancholie gehört, gleich welche Erklärung als stichhaltig angesehen werden kann: Der Genius gehört nur als ein Teil zu dieser Gesamtdarstellung von „Melancholie”. Dem entspricht auch die sprachliche Seite von „melencolia“: Deutsches Wörterbuch (DTV-Ausgabe Bd.12, 1988 ff.) und Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (Bd. 9, Sp. 2175 ff.) verzeichnen in allen Belegen nur ein Temperament und keine Person.

 

Und eben das ist ja das Erstaunliche an diesem Bild:  der Genius blickt so wach, „überwach” nennt Panofsky diesen Blick (Böhme S. 13), so aufmerksam, so klar über all das Sammelsurium hinweg. Er zeigt sich unbeeindruckt von der Beschaffenheit dieser hier gezeigten Welt in ihrer Verworrenheit. Dass dieser Blick etwas Besonderes bedeutet, zeigt die Augenstellung des anderen Wesens an: Der Putto hat keinen Blick, seine Augen sind leer, und eines, sein linkes, möglicherweise sogar geschlossen. Damit entspricht er den anderen Lebewesen, dem Flug-Hund (das Schriftbild haltende Flugwesen - Fledermaus?) und dem schlafenden Hund. Dieses Flugwesen hält sein eines perspektivisch kaum sichtbares Auge - das linke -  fast geschlossen, seine Kleinheit marginalisiert aber die Bestimmung des Augenzustands, der Hund hat die Augen ganz geschlossen.

 

Ganz anders als ein Melancholiker strahlt der Genius mit seinem Blick Kraft und Sicherheit aus und verkörpert damit die Auffassung Dürers vom Gesichtssinn als dem edelsten - und wohl wichtigsten - Sinn des Menschen: „Dan der aller edelst sin der menschen ist daz gesycht. Darum ein jtlich ding, das wir sehen, ist vns glaublicher und bestendiger weder das wir hören“ (Albrecht Dürer, Das Lehrbuch der Malerei. In. ders., Schriftlicher Nachlass, hrsg.v. Hans Rupprich, Bd. 2, Berlin 1966, S.112-113; vgl. auch Hans Blumenberg, Das Licht als Metapher der Wahrheit. In: Studium Generale 10,1957, S.443). Die Fokussierung auf den Genius und dessen Blick wird auch daran sichtbar, dass er einen beeindruckenden Kranz trägt, eine Auszeichnung, die eine besondere Hervorhebung darstellt. Eine weitere Hervorhebung liegt darin, dass der Genius über „Beutel” und „Schlüssel” verfügt. „Beutel” könnte Zeichen des Geizes sein, der dem Melancholiker zugesprochen wird (wie das ein Einblattdruck des 15.Jh. zeigt), wenn nicht Dürer etwas anderes dazu gesagt hätte. In einer Vor-Zeichnung hat er dem „beutell” und dem „schlüssell” eine Bedeutungserklärung beigegeben. Demnach „bedeutt schlüssell gewalt und beutell  reichthum“. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch Dürers ist „Gewalt” noch nicht vom Wort „Macht” abgelöst und dann monosemiert worden zu „physischer Kraft” (lat. ‘violentia’). „Gewalt“ bedeutet vielmehr „äußere, dargestellte macht, mächtigkeit”, so dass z.B. (1482) „von gottes gewalt” gesprochen werden kann i.S. von „seiner herrlichkeit” (Deutsches Wörterbuch Bd. 6, 4923). Ähnliches gilt für „reichthum“, welches Wort damals nicht so sehr die Anhäufung geldlicher oder geldwerter Dinge meinte als vielmehr die Fülle, den Überfluss der (wertvollen) Dinge, also ‘Schätze’. Von Gott kann gesagt werden, dass er den „reichthum der gnaden” uns schenke (Deutsches Wörterbuch Bd.14, 616 ff.). Der Genius ist nicht nur belebt und belebend („Kranz”) sondern auch rechtlich und von seinen Mitteln her machtvoll, so machtvoll, dass er ein Gott sein könnte. Peter-Klaus Schuster verweist darauf, dass die Genius-Figur auf der „Fortunaseite” des Stiches plaziert ist, also rechts, und dann ausgezeichnet sei durch die Ausgewogenheit der Waage und der Sanduhr (halbe Zeit; S.91), sowie des Rechenbretts mit seiner jovial gleichbleibenden Längs-, Diagonal- und Quersumme (34), so dass er als deus in terris, residierend mit umfassender Verfügungsgewalt, angesehen werden kann (S.94). Das Besondere der Genius-Figur fällt mittlerweile wohl auf und zu dieser Auffälligkeit gehört auch, dass der Genius weiblich ist. Das könnte einer Renaissance-Tradition entsprechen, nämlich eine „Donna” abzubilden, so wie das Cesare Ripa in seiner Iconologica von 1603 beschreibt. Diese „Donna“ hat allerdings „vecchia, melta & dogliosa, di brutti panni vestita, senza alcum ornamento...” (S.303), also etwas, das auf Dürers Figur nicht zutrifft. So könnte es sein, dass das dunkle Gesicht des Genius, diese facies nigra, eine Evokation des göttlichen Saturn darstellen, der die melancholische Stimmung mit seiner hintergründigen Genialität begabt. Dieser Saturn kann in der Renaissance auch als weibliche Figur abgebildet werden (Isabell Guntermann, S.61). Das wirft die Frage auf: wieso kommt ein geflügelter, frisch bekränzter und machtvoller („herrlicher”) Genius in diese Welt?  Was besagt es, dass er mit einem so wachen, be-geisternden Blick über alles hinwegsieht, hin auf etwas, das nicht erscheint, aber ahnbar wird ? Vergegenwärtigen wir uns, dass dieser Genius inmitten eines „Sammelsuriums“ sitzt, das einen eigentlich zur Verzweiflung bringen könnte. Auf diesen Kontrast kommt es wohl an. Ausgerichtet ist der Blick des Genius in Richtung des Regenbogens, der, am oberen Bildrand, immerhin ein Achtel des Stichs einnimmt und als ein Zeichen des Friedens und des Neuanfangs gelten kann. Goethe: „Zart Gedicht, wie Regenbogen, / wird nur auf dunklen Grund gezogen,/ Drum behagt dem Dichtergenie / Das Element der Melancholie”.

 

Das ergibt einen weiteren Hinweis darauf, wie diese „Melancholie” aus der Dürer-Zeit heraus zu verstehen ist. Damals kam die Erinnerung an die „griechische melancholia” i.S. einer „verzweifelnden Genialität” wieder auf und trat in Gegensatz zur „schwarzen Melancholie” christlicher Prägung i.S. von „Schwermut”. Im 3. vor-christlichen Jahrhundert hatte Theophrast (372 - 285) in seiner Schrift „Problemata physika” darauf verwiesen, dass ‘melancholia’ betroffen sei vom Durcheinander der Welt und man nicht wisse, wie der melancholische Mensch damit zurecht kommen könne, wenn in ihm nicht ein göttlicher „Wahnsinn” (Genialität) aufkommen könne, eine Kraft, die dann überirdisch auf das irdisch/erdhafte Durcheinander (Melancholie ist der Erde zugeordnet) wirken könne. Denn man fragte sich damals: „warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer...als Melancholiker”? Das hat Marsilio Ficino aufgegriffen und vom göttlich genialen Wahnsinn gesprochen, der im melancholischen Menschen stecke: „cur melancholoci ingeniosi sunt” [warum Melancholiker genial sein können] fragt er in „De vita tripliciti”, von 1489 (Buch I,5). Das war ein sehr populäres Werk, an die dreißig Nachdrucke, viele Übersetzungen in europäische Sprachen gab es; Dürer dürfte das Werk über Pirkheimer kennengelernt haben. Für die Renaissance war Melancholie dás Temperament des Gelehrten, was wiederum andeutet, dass der wissende Gelehrte viel von der Bestimmung der Welt weiß und deshalb ein Herr dieser Welt sein könnte. Uns näher liegend, verkörpert das die Figur des Faust, der alles „wissen” will, um zu herrschen, und deshalb als ein Melancholiker angesehen werden kann.

 

In dieser Auffassung setzt sich „Melancholie” zusammen aus dem Verzweifeln an der Unmöglichkeit, die Welt zu ordnen, und der Gabe des ‘ingeniums’, das demjenigen zu Teil wird, der so arg vom Durcheinander der Welt betroffen ist. So vermerkte Robert Burton (1577 - 1640), dass dies als Zusammenfassung von etwas völlig Widersprüchlichem zu verstehen sei (Peter-Klaus Schuster S.91 ff.). „Melancholie” vereint demnach zwei Befindlichkeiten: Verzweiflung und Begeisterung. Beides sehen wir auf dem Stich: die verstreuten Gegenstände, die kein „Ganzes” ergeben können und die Vision, die Begeisterung, die der geflügelte Genius in der Bildkonstellation Dürers in das irdische Dasein, in die „Welt” hineinbringt und mit seinem Blick die Inspiration anzeigt, die für Dürer in der „Melencolia“ steckt. Melancholie erwächst aus der Notwendigkeit, die Unordnung zu ertragen bzw. zu erkennen, dass diese Unordnung auswegslos auf unser Menschenwirken zurück geht. Die daraus erwachsende Verzweiflung wird gemildert oder gar aufgehoben vom Genius, der mit seinem Blick die Vision anzeigt, die diese Verzweiflung aufzuheben vermag. Der Stich zeigt sehr prägnant diesen einmaligen Blick des Genius’, der aus der Tiefe des Angesichts mit aller Belebung hinaus in die ganze Welt geht, deren inspirierender Glanz im Regenbogen und im Stern/Kometen aufscheint.

 

So wie die vorherige Anwendung der Werkzeuge nicht abgebildet wird, wenn sie in der Reduktion auf ihre Nutzlosigkeit dargestellt werden, so wird auch derjenige, der gemeint ist, nicht abgebildet: der (männliche!) Gelehrte, der angesichts dessen, was er erforschen und wissen, aber eben nicht beherrschen kann, ein melancholisches Temperament aufweist. In welcher Weise er erforschen kann, wird mit den Instrumenten gezeigt. Gezeigt wird aber auch, dass „wir nichts wissen” können, wie das der große Melancholiker Faust beklagt (Faust, v.164) und was zuvor noch deutlicher Cusanus und Bovillus als die Verbindung mit dem Göttlichen ansehen: „Im Wissen von seinem Nichtwissen als Vollendung des Wissens ist der Mensch” (Peter-Klaus Schuster S. 94). Gezeigt wird also, wie sich ein Weltausschnitt dem Forscher dann darbietet, wenn er es bestimmen will, nämlich als ein heilloses Durcheinander. Trost erhält er aus der inspirierenden Kraft des Genius, der mit seinem Blick die Weiten und Hintergründe visionär vermittelt, die mehr versprechen als die versammelte Unordnung.

 

Der Stich zeigt nicht „den” Melancholiker, wohl aber das, was die Melancholie ausmacht. Warum aber ist dieser Stich so bewegend für eine lange Zeit und ganz besonders in unserer Moderne? Das Hintergründige des Stichs wurde deutlich in der intellektuellen Debatte des 20. Jahrhunderts, als man von Thomas Mann bis W.G. Sebald über diesen Stich schrieb. Spürbar wurde die Faszination, die aber alsbald in die Thematisierung eines spezifisch intellektuellen Typus mündete, eben den „Melancholiker“, dessen Darstellung man im Stich gefunden zu haben glaubte. Diese Personifizierung ist aber lediglich eine Auseinandersetzung mit der Deutschnationalisierung des Stichs im 19. Jahrhundert (näheres dazu s. Mary Cosgrove S. 165), und die behauptet von sich, damit knüpfe man an eine wohlvertraute alteuropäische MelancholieTradition an. Diese Behauptung ist aber nur ein Produkt oder ein Kampfbegriff des 19. Jahrhunderts und verfehlt die Grundlagen und Voraussetzungen des Stichs.

 

Die „Verkörperung” eines Melancholikers dürfte dieser Stich wohl nicht sein. Zu bewegend ist das Scheitern der Erkundung und des Wissens in den vielfältigen Abbildungen von benutztem und nun nutzlosem Werkzeug. Wir können die Welt erkunden und viel von ihr wissen, aber einen Zusammenhang, einen Kosmos, eine Welt, will sich daraus nicht ergeben. Auch die großen Erfindergeister können „es“ uns nicht sagen. Sie entdecken viel, aber immer nur Einzelnes. So gestattet die Relativitätstheorie zwar interessante Einblicke, doch sie ergibt keine umfassende Sicht auf die Welt - und Albert Einstein kann sie uns auch nicht geben. Die Ergebnisse dieser Welterkundungen suggerieren zwar eine Welten-Herrschaft oder Welten-Lenkung - eine Illusion, die dem Melancholiker völlig klar ist. Insofern ist er der wahre „Real“ist. Denn tatsächlich reichen unsere menschlichen Kräfte und Gedanken nicht weit über unseren Umkreis hinaus und auf der Welt geschehen Dinge, deren wir nicht Herr sind oder werden können.

 

Das Faszinierende und das Besondere an dem Stich ist dann eben dieser Blick, der von dem Genius ausgeht und der über alles Stückwerk hinausgeht in eine nur erahnbare Region. Obwohl wir uns so gründlich und reflektierend verhalten, gibt es diesen Blick, der uns zeigt, dass wir verbunden sind mit dem Erahnbaren unserer Welt. Melancholie ist, wie der Stich zeigt, eben die Stimmung, die dieses Erahnbare erfasst - oder eben die Stimmung, in der wir von den Erahnbaren erfasst werden.

Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514

Angaben zur hilfreichen Literatur:
Die Abbildungen von zeitgenössischen Stichen finden sich in dem Buch von Klibansky/Panofsky/Saxl, bei Hartmut Böhme und auf der Internetseite: http://www.enzyklopaedie.ch/dokumente/ Temperamente&Emotionen.html. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übersetzt von Christa Buschendorf. Frankfurt am Main, 7.Aufl. 2013. Hartmut Böhme, Albrecht Dürer. Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung. Frankfurt am Main 1993. Peter-Klaus Schuster, Melencolia I. Dürer und seine Nachfolger. In: Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst. Galeries Nationales du Grand Palais, Paris und Neue Nationalgalerie, Berlin. Hrsg. v. J. Clair. Ostfildern-Ruit, 2005, 90 - 103. Isabell Guntermann, Mysterium Melancholie. Studien zum Werk Innokentij Annenskijs. 2001. Mary Cosgrove, Erinnerungsethik und „Dürer-Diskurs“ im Werk W.G.Sebalds. In : W.G.Sebald. Intertextualität und Topographie, hrsg.v.Irene Heidelberger-Leonhard et al., 2008, 153-168. Rainer Hoffmann, Im Zwielicht. Zu Albrecht Dürers Meisterstich Melencolia I, Köln 2014.
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Layout und Satz: Hannah F. Knoop